Der Stundenzaehler
â¦Â«
Er beugte sich vor und starrte verblüfft auf einen Wolkenkratzer gegenüber. Dort saà ein Mann am Rand des Dachs und lieà die Beine baumeln. Er hielt etwas in den Armen.
»Was ist los?«, fragte einer der Anwälte.
»Dort drüben sitzt irgendein lebensmüder Irrer«, antwortete Victor.
Dennoch konnte er den Blick nicht abwenden. Aber nicht, weil er sich um den Mann sorgte. Sondern, weil der direkt in Victors Fenster zu starren schien.
»Sollen wir dann mit dem Rohstoff-Portfolio anfangen?«, fragte einer der Anwälte.
»Was? ⦠O. Ja .«
Victor lieà an diesem Fenster die Jalousie herunter und wandte sich wieder der Frage zu, wie groà das Vermögen sein sollte, das er mit in den Tod nehmen würde.
46
Sarah stand vor dem Uhrenladen und betrachtete die Zeichen von Sonne und Mond in der Tür.
Das musste wohl dieses Geschäft sein, auch wenn nirgendwo ein Name zu entdecken war.
Als sie eintrat, kam sie sich vor wie in einem Museum. O Gott, so was haben die hier nicht , dachte sie. Die scheinen n ur dieses alte Zeug zu verkaufen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Der Besitzer mit den weiÃen Haaren und der Nickelbrille erinnerte Sarah an einen Chemielehrer, den sie in der zehnten Klasse gehabt hatte. Der hatte auch immer eine Weste getragen.
»Führen Sie â wahrscheinlich nicht â aber es gibt da so eine Armbanduhr, glaube ich. Ich bin nicht mal sicher, ob die wirklich hergestellt wird, aber â¦Â«, setzte sie an.
Der Besitzer hielt die Hand hoch.
»Ich hole jemanden, der sich auskennt«, sagte er.
Er kehrte mit einem ernst wirkenden Mann mit zerzausten Haaren zurück, der einen schwarzen Rollkragenpullover trug. Und irgendwie gut aussah, fand Sarah.
Der Mann nickte ihr wortlos zu.
»Es ist eine Uhr aus einem Film. So was haben Sie wahrscheinlich nicht â¦Â«
Zehn Minuten später war sie immer noch am Erzählen.
Sie sprach nicht mehr über die Uhr, sondern über Ethan, und erklärte, weshalb sie diese Uhr für ein passendes Geschenk hielt. Der Mann hinter der Ladentheke war ein guter Zuhörer; er wirkte so geduldig, als habe er alle Zeit der Welt (sein Chef musste ziemlich nachsichtig sein, dachte Sarah). Und da sie mit ihrer Mutter nicht über Ethan sprach und sich niemandem aus der Schule anvertrauen konnte (Ethan hatte keinem etwas von ihnen gesagt, und sie hielt es auch so), tat es ihr nicht nur gut, sondern es machte ihr regelrecht SpaÃ, von ihren Erlebnissen zu berichten.
»Manchmal ist Ethan ziemlich einsilbig«, sagte sie. »Und er beantwortet auch nicht jede SMS von mir.«
Der Mann nickte.
»Aber ich weiÃ, dass er diesen Film mag. Und diese Armbanduhr war dreieckig, glaube ich. Sie soll eine Ãberraschung sein.«
Der Mann nickte wieder. Eine Kuckucksuhr meldete sich. Es war fünf Uhr, und fünfmal ertönte der Ruf des Kuckucks.
»Uuuh«, sagte Sarah und hielt sich die Ohren zu. »Es soll aufhören.«
Der Mann warf ihr einen beunruhigten Blick zu.
»Was?«, sagte Sarah.
Der Kuckuck verstummte.
Es soll aufhören .
Ein seltsames Schweigen trat ein.
»Ãhm â¦Â«, sagte Sarah schlieÃlich. »Wenn Sie mir ein paar Armbanduhren zeigen, könnte ich ja schauen, ob die richtige dabei ist.«
»Gute Idee«, bemerkte der Besitzer.
Der Mann verschwand im Hinterzimmer. Sarah trommelte unruhig mit den Fingern auf der Theke und betrachtete eine alte Taschenuhr mit bemaltem Gehäuse, die neben der Kasse in einer Schatulle lag. Die Uhr sah sehr wertvoll aus.
Der Mann kam mit einer Schachtel zurück. Auf dem Deckel war ein Foto aus dem Film Men in Black abgebildet.
»O mein Gott, Sie haben die wirklich?«, fragte Sarah aufgeregt.
Der Mann reichte ihr die Schachtel, und Sarah öffnete sie. Darin lag eine dreieckige Armbanduhr mit schwarzem Band.
»Ja! Das ist sie! Oh, ich freu mich so sehr!«
Der Mann legte den Kopf schief.
»Warum sind Sie dann so traurig?«
»Hm?« Sarah blinzelte verwirrt. »Was meinen Sie damit?«
Sie sah den Besitzer an, der verlegen wirkte.
»Er macht seine Arbeit immer besonders gut«, flüsterte er entschuldigend.
Sarah versuchte die Frage des Mannes zu verdrängen. Wer behauptete denn, dass sie traurig war? Ihre Gefühle gingen den Mann doch nichts an.
Sie blickte auf die Schachtel und las das Preisschild. 249 Dollar. Sarah fühlte sich plötzlich unwohl
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