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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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dachte sich, wie schön es wäre, wenn er die Zeit so lange zurückschalten könnte, bis er wieder zuhause wäre.
    Du bist der Vater der irdischen Zeit.
    Konnte er wahrhaftig für all das verantwortlich sein? Dor dachte an die Jahrtausende, in denen er in der Höhle gefangen gewesen war. Und fragte sich, ob jeder Mensch, der die Uhr im Auge behält, dafür bestraft wird.

    Schließlich erreichte er die Küste.
    Dort stieß er in dem Ort Westerhever in Deutschland auf einen Leuchtturm. Er hatte etwas gelesen über Leuchttürme und die Nordsee. Dor hielt das Stundenglas aufrecht, um die Wellen beobachten zu können. Dann verlangsamte er die Zeit wieder.
    Seine Ausbildung in der modernen Welt war vollendet. Dor hatte hundert Jahre lang einen einzigen Tag erforscht.
    Er horchte auf den Wind. Hörte, was er hören musste.
    Â» Noch ein Leben.«
    Â»Es soll aufhören.«
    Dor watete in das stille Wasser.
    Und begann zu schwimmen.

39
    Dor durchschwamm den Atlantik in einer Minute.
    Als er Deutschland verließ, war es 19.02. In Manhattan traf er um 13.03 ein. Unseren Uhren zufolge hatte er die Zeit zurückgedreht.
    Während Dor durchs Wasser pflügte, ohne Kälte oder Müdigkeit zu spüren, ließ er all seine Erlebnisse vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. Und dachte an die Menschen aus seinem Leben, von denen er sich nie verabschiedet hatte – Menschen, die schon seit Tausenden von Jahren nicht mehr lebten. Sein Vater. Seine Mutter. Seine Kinder. Seine geliebte Frau.
    Vollende deine Reise, dann wirst du es erfahren.
    Dor sann darüber nach, was das sein würde und was er noch lernen musste. Und er fragte sich, wann er wohl sterben durfte, wie alle anderen Menschen auch.
    Als er das Festland erreichte, zog Dor sich an einem Dock hoch.
    Ein Hafenarbeiter mit Kappe und Stoppelbart entdeckte ihn. »Hey, Freundchen, was zum Teufel …«
    Dor hielt das Stundenglas schräg, blickte zu den Wolkenkratzern auf und stellte fest, dass dies der bislang seltsamste Ort von allen war.

    New York City ragte zum Himmel auf wie eine unvorstellbare Zukunftsvision …
    â€¦ und war mit nichts zu vergleichen, was Dor in den hundert Jahren in Europa gesehen hatte. Die Gebäude waren gigantisch und standen extrem dicht beisammen. Und die Menschen. So viele! Standen in Trauben an Straßenecken. Quollen aus Geschäften. Selbst als Dor die Stadt verlangsamt hatte, fiel es ihm noch schwer, sich zwischen den vielen Körpern hindurchzudrängen.
    Da er etwas zum Anziehen brauchte, suchte er sich in einem Laden namens Bravo! eine Hose und einen schwarzen Rollkragenpullover aus. An der Garderobe eines japanischen Restaurants fand er einen Mantel, der ihm passte.
    Als Dor zwischen den gewaltigen Wolkenkratzern hindurchging, musste er an Nims Turm denken. Und er fragte sich, ob das Machtstreben des Menschen tatsächlich keine Grenzen kannte.

Stadt

40
    Die Zeiger einer Uhr finden stets den Weg nach Hause.
    Das traf schon in dem Augenblick zu, in dem Dor seinen ersten Sonnenschatten vermerkte.
    Als Kind hatte er bereits vorausgesagt, dass der morgige Tag genauso viele Augenblicke wie dieser Tag enthalten würde und der übernächste Tag genauso viele Augenblicke wie das Morgen. Und jede Generation nach Dor hatte es darauf angelegt, sein Konzept weiterzuentwickeln und das Maß der Zeit zu verbessern.
    An Türen stellte man Sonnenuhren auf. Auf Plätzen errichtete man riesige Wasseruhren. Die Erfindung des mechanischen Uhrwerks – mit Spindeln, Gewichten und Unruh – ermöglichte Turmuhren, Standuhren und Tischuhren.
    Dann befestigte ein französischer Mathematiker eine Uhr an einem Band, und der Mensch begann die Zeit am Körper zu tragen. Die Präzision wurde mit enormer Geschwindigkeit verbessert. Obwohl der Minutenzeiger erst im sechzehnten Jahrhundert erfunden wurde, hatten Pendeluhren bereits im siebzehnten Jahrhundert nur noch eine Abweichung von einer Minute pro Tag. Hundert Jahre später gingen die Uhren bis auf eine Sekunde genau.
    Aus der Zeit entwickelte sich eine ganze Industrie. Man unterteilte die Welt in Zeitzonen, um Transporte genau planen zu können. Züge fuhren auf die Minute pünktlich ab; Schiffe wurden mit starken Motoren ausgestattet, um ihr pünktliches Eintreffen sicherzustellen.
    Die Menschen standen zum Klingeln von Weckern auf. Arbeitszeiten wurden festgelegt. Jede Fabrik verfügte über eine

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