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Der Stundenzaehler

Der Stundenzaehler

Titel: Der Stundenzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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und wollte den Laden möglichst schnell verlassen.
    Â»Gut, ich kaufe die Uhr«, sagte sie.
    Der Mann sah sie mitfühlend an.
    Â»Ethan«, sagte er.
    Â»Was ist mit ihm?«
    Â»Ist er Ihr Ehemann?«
    Â»Was?«, rief Sarah aus. Sie musste unwillkürlich grinsen. »Nein! Um Gottes willen. Ich gehe doch noch zur Schule .«
    Sie strich ihre Haare aus dem Gesicht. Ihre Stimmung war schlagartig besser. »Ich meine, ja klar, vielleicht heiraten wir sogar eines Tages – warum eigentlich nicht? Aber jetzt ist er erst mal nur … mein Freund.«
    Sie hatte dieses Wort noch nie benutzt für einen Jungen und fühlte sich ein bisschen unsicher, etwa so, als trete sie in einem Minirock aus einer Umkleidekabine. Doch der Mann lächelte auch, und sie vergab ihm seine merkwürdige Frage über Traurigkeit, weil »mein Freund« sich so schön anhörte und sie diese Worte unbedingt wiederholen wollte.

47
    Jeden Abend, wenn in New York die Sonne unterging, setzte Dor sich aufs Dach eines Wolkenkratzers und ließ die Beine baumeln.
    Er hielt das Stundenglas schräg und brachte die riesige Stadt beinahe zum Stillstand. Während er zum halbdunklen Himmel über den zahllosen hohen Gebäuden aufblickte, stellte Dor sich vor, dass Alli neben ihm saß, wie früher, wenn sie gemeinsam den Sonnenuntergang betrachtet hatten. Dor brauchte weder Schlaf noch Essen. Er schien in einem anderen Zeitraster zu leben. Doch seine Gedanken hatten sich nicht verändert, und wenn er schließlich die Dunkelheit zuließ, sah er wieder Alli mit ihrem Schleier und den Viertelmond am Abend ihres Hochzeitstages vor sich.
    Sie ist meine Gattin.
    Dor vermisste Alli schmerzhaft, auch nach so langer Zeit, und er wünschte sich, mit ihr über diese rätselhafte Reise sprechen und sie fragen zu können, welches Schicksal ihn am Ende erwartete.
    Er hatte die beiden Menschen gefunden, die er auf der Erde finden sollte – oder sie hatten ihn gefunden –, doch er verstand noch immer nicht, weshalb ein alter Mann in einem Rollstuhl und ein verliebtes junges Mädchen ausgewählt worden waren.

    Dor hielt das Stundenglas dicht vor seine Augen, um die Symbole zu betrachten, die er während seiner Gefangenschaft in die Felswände geritzt hatte …
    â€¦ jene Symbole, die sich vom Stein gelöst und um den Ring zwischen den Tropfsteinen gelegt hatten. Mit seiner Macht über die Zeit hätte Dor sich in dieser neuen Welt alles nehmen können, wonach ihm der Sinn stand. Doch ein Mensch, der alles haben kann, wird das meiste nicht begehren. Und ein Mensch ohne Erinnerungen ist nur eine leere Hülle.
    Und deshalb hielt Vater Zeit, wenn er hoch oben über die Stadt blickte, den einzigen Gegenstand in Händen, der wertvoll für ihn war – das Stundenglas, das seine Geschichte enthielt. Und er erzählte sich selbst die Stationen seines Lebens:
    Â»Hier sind wir den Hügel hinaufgerannt … das ist der Stein, den Alli geworfen hat … Das ist der Tag, an dem wir geheiratet haben …«

48
    Victor blickte auf die zwei Nadeln und seufzte.
    Seit fast einem Jahr musste er zur Dialyse, und von Mal zu Mal war ihm dieser Vorgang verhasster. Von dem Tag an, als man ihm einen Dialysezugang gelegt hatte und ein kleiner Schlauch aus seinem Arm ragte, hatte er sich gefangen gefühlt wie ein Tier in einer Falle. Drei Termine pro Woche, jeweils vier Stunden. Und immer derselbe öde Ablauf. Zusehen, wie das Blut heraus- und dann wieder hineinlief.
    Er hatte sich zunächst gegen den Vorschlag gewehrt, hatte den Zugang nicht haben wollen und sich auch geweigert, während der Behandlung mit anderen Patienten zusammenzusitzen, obwohl Grace dem Arzt beipflichtete, der gesagt hatte: »Es hilft, mit Menschen zu sprechen, die vor derselben Herausforderung stehen.« Doch Victor sah das anders: Diese Leute hatten noch einen Monat oder ein Jahr zu leben; er hingegen plante ein ganz neues Leben.
    Er bezahlte eine eigene Suite mit Computern und Fernseher und Privatschwestern. Roger blieb immer in der Nähe, und Victor nutzte die vier Stunden Dialyse zum Arbeiten. Sein Handy hatte er mit einem Headset am Ohr befestigt, auf dem Tisch stand sein BlackBerry, und vor sich hatte er eine kabellose Tastatur.
    Eine Krankenschwester kam mit ihrem Klemmbrett herein.
    Â»Wie geht’s uns heute?«, fragte sie Victor. Sie hatte rote Haare und war so dick, dass ihre

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