Der Stundenzaehler
hätte ihre Anwesenheit nur mit der Wahrheit erklären können: dass sie ihn regelrecht verfolgte.
Als Sarah aus dem Schulgebäude trat, schrieb sie ihm noch eine SMS.
50
Victor fuhr mit dem Rollstuhl in sein Büro und schob die Tür hinter sich zu. Dann erst bemerkte er den Lehrling aus dem Uhrenladen, der an der Wand lehnte.
»Wie sind Sie hier reingekommen?«, fragte Victor.
»Ihre Uhr ist fertig.«
»Hat meine Sekretärin Sie eingelassen?«
»Ich wollte sie Ihnen persönlich überbringen.«
Victor zögerte und kratzte sich am Kopf. »Zeigen Sie her.«
Der Lehrling griff in seine Jackentasche.
Sonderbarer Kauz , dachte Victor. Würde der für mich arbeiten, dann bestimmt im Labor. Der ist einer von diesen schüchternen, hyperintelligenten Technikern, der dann eines Tages irgendwas erfindet, das ein Unternehmen zu einer Goldgrube macht .
»Wo haben Sie so viel über Uhren gelernt?«, fragte Victor.
»Das war einmal ein Interessensgebiet von mir.«
»Inzwischen nicht mehr?«
»Nein.«
Der Lehrling klappte eine Schachtel auf und reichte Victor die Taschenuhr. Das Gehäuse war auf Hochglanz poliert worden.
Victor lächelte. »Sieht ja prächtig aus.«
»Warum legen Sie sich so eine Uhr zu?«
»Warum?« Victor holte tief Luft. »Tja. Ich unternehme demnächst eine Reise und möchte eine solide Uhr bei mir haben.«
»Wo fahren Sie hin?«
»Nur ein bisschen Wellness.«
Der Lehrling blickte Victor verständnislos an.
Victor lächelte. »Erholung? Schon mal davon gehört?«
Der Mann schien immer noch nichts zu verstehen.
»Ab und an kommen Sie aber schon aus Ihrem Hinterzimmer heraus, oder?«, fragte Victor.
»Ich war schon an anderen Orten, wenn Sie das meinen.«
»Ja«, sagte Victor. »Das meine ich.«
Er musterte den Besucher. Irgendetwas war sehr merkwürdig an dem Mann. Weniger sein ÃuÃeres als seine Sprache. Seine Sätze hörten sich an, als stammten sie aus einem Buch.
»Als ich in Ihrem Laden war â woher wussten Sie da, dass ich in Frankreich geboren bin?«
Der Lehrling zuckte die Achseln.
»Haben Sie das irgendwo gelesen?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Im Internet gefunden?«
Keine Antwort.
»Im Ernst jetzt. Ich möchte es wissen. Wie haben Sie das erfahren?«
Der Mann blickte unter sich und zögerte. Dann sah er Victor unumwunden an.
»Ich habe gehört, wie Sie als Kind um etwas gebeten haben. Damals wie heute wünschten Sie sich mehr Zeit.«
51
Ausgerechnet durch ihre Mutter kam Sarah auf die Idee.
Als die beiden gemeinsam Hühnerpastete zu Abend aÃen, erzählte Lorraine von einem Armband, das sie gemeinsam mit anderen einer Freundin zum fünfzigsten Geburtstag schenken wollte. Und sie lieÃen das Armband gravieren.
»Sarah? Hörst du mir überhaupt zu?«
»Was? Ja, ja.«
Am nächsten Tag schwänzte Sarah die letzten beiden Schulstunden (was ihr gar nicht ähnlich sah, aber für Ethan musste sie sich Zeit nehmen) und fuhr wieder mit dem Zug in die Stadt. Am Spätnachmittag betrat sie den Uhrenladen, wo es wiederum keine andere Kundschaft gab. Der Laden tat ihr leid; wenn hier vor Weihnachten nichts gekauft wurde, wann dann?
»Ah«, sagte der Besitzer, der sie wiedererkannte. »Guten Tag.«
»Erinnern Sie sich an die Uhr, die ich hier gekauft habe?«, fragte Sarah. »Könnten Sie die auch gravieren? Machen Sie so etwas hier?«
Der Besitzer nickte.
»Super.«
Sarah nahm die Uhr aus der Tasche, legte sie auf den Tresen und blickte auf die Tür, die zum Hinterzimmer führte.
»Ist der andere Herr auch hier?«
Der Besitzer lächelte.
»Möchten Sie, dass er die Gravur ausführt?«
Sarah errötete. »Ach, nein. Ich meine, ist mir egal. Ãhm, oder ja, doch, warum nicht, wenn er so was kann.«
Insgeheim hoffte Sarah aber, dass der Mann da war. SchlieÃlich war er der einzige Mensch, dem sie von Ethan erzählt hatte.
»Ich hole ihn«, sagte der Besitzer.
Einen Moment später trat der Mann mit dem schwarzen Rollkragenpullover aus dem Hinterzimmer.
»Hallo«, sagte Sarah.
Der Mann schaute Sarah mit leicht schräg gelegtem Kopf an.
Er sieht so einfühlsam aus , dachte sie.
Der Mann nahm die Uhr in die Hand.
»Was möchten Sie denn eingravieren lassen?«, fragte er.
Sarah hatte sich etwas
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