Der Stundenzaehler
Schwesterntracht aus den Nähten zu platzen drohte.
»Grandios«, murmelte Victor.
»Na prima«, erwiderte die Schwester.
Erschöpft blickte er an ihr vorbei und versank in Gedanken. Nur noch eine Woche, dachte er. Dann würde er sich ausklinken. Und am Silvesterabend wäre er schon an Bord des Bootes in die neue Welt.
Victor blinzelte, weil er in der Ecke eine schattenhafte Gestalt zu sehen glaubte. Doch als er noch einmal blinzelte, war die Gestalt verschwunden.
Das war Dor gewesen.
Er war unbemerkt durch das Gebäude gestreift, um es zu erkunden â hatte die Geräte und das Personal betrachtet und versucht die Vorgänge zu begreifen, die ihm trotz seiner Beobachtungen noch immer rätselhaft waren. Hier wurden offenbar Kranke geheilt, so viel verstand er. Und er empfand einen Anflug von Schmerz, den er immer erlebte, wenn er sich mit moderner Medizin befasste: Alli war einsam und alleine gestorben, auf einer Decke unter dem Himmel. Hätte sie zu dieser Generation gehört, hätte sie vielleicht die Chance gehabt, alt zu werden.
Dor sann darüber nach, wie es sein konnte, dass der eigene Tod so sehr vom Zeitpunkt der eigenen Geburt abhing.
Er betrachtete die groÃe Maschine in der Privatsuite, beobachtete, wie das Blut aus dem Körper des Mannes heraus- und wieder hineinfloss. Er näherte sich Victor, der mit einem Gerät am Ohr in diesem groÃen Sessel saà â Victor, in dessen Schicksal Dor sich einmischen musste, um zu seiner eigenen Bestimmung zu gelangen.
Wie alt war dieser Victor, der â ähnlich wie Nim â offenbar besser behandelt wurde als andere Menschen? Angesichts der Falten, der dünnen Haare und Altersflecken an den Armen schien er bereits mit einem langen Leben gesegnet zu sein. Und doch runzelte er die Stirn, und seine Mundwinkel waren nach unten gezogen.
Ein schwer kranker Mensch fürchtete sich für gewöhnlich â vielleicht war er sogar dankbar für etwas. Doch dieser Mann wirkte zornig .
Oder vielleicht eher â ungeduldig.
49
Nachdem Sarah das Geschenk erstanden hatte, brauchte sie nur noch eine Verabredung mit Ethan, um es ihm zu geben.
Sie schrieb ihm mehrere Nachrichten, aber er antwortete nicht. Vielleicht war sein Handy kaputt. Doch wie sollte Sarah ihn dann erreichen? In wenigen Tagen begannen die Weihnachtsferien. In der Schule nach ihm zu suchen war zu unsicher. AuÃerdem befolgte sie seine Anweisung und sprach ihn dort nicht an, um ihr Geheimnis zu wahren.
Sarah wusste, dass er nach dem Unterricht in der Sporthalle Lauftraining machte, und beschloss, davor zu warten und ihn dann »zufällig« zu treffen.
Als Sarah mit der in Geschenkpapier verpackten Uhr im Gang wartete, wandte sie den Blick ab, wenn einer von den anderen vorbeiging â die »angesagten« Mädchen in ihren Designer-Klamotten; die sportlichen, muskulösen Jungs, die Hipster mit schwarzen Kastenbrillen und coolen Hüten, die Emos mit alten schwarzen T-Shirts und Piercings.
Manche ihrer Mitschüler kannte sie seit vier Jahren, ohne jemals ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben. Aber so lief es eben an der Oberschule: Man urteilte über andere und verhielt sich entsprechend.
Mit Sarah wollte kaum jemand sprechen â sie wurde von den anderen als zu klug, zu dick und zu schrullig beurteilt, um cool zu sein.
Bis Ethan in ihrem Leben aufgetaucht war, hatte Sarah ihren Schulabschluss kaum erwarten können.
Ethan, der wunderbare Ethan, hatte es jedoch gewagt, sich dem Urteil der anderen zu widersetzen.
Er wollte mit Sarah zusammen sein.
Es gab jemanden, der mit ihr zusammen sein wollte!
Seit er ihr Freund war, fühlte Sarah sich so wunderbar erwachsen. Und sie wollte so gerne ein bisschen mit ihm angeben â¦
Jetzt kamen zwei Mädchen, die Sarah seit der dritten Klasse kannte, auf sie zu â Eva und Ashley, beide in stramm sitzenden gestreiften Tops und Röhrenjeans, in die Sarah niemals hineinpassen würde. Die beiden schauten zu ihr herüber, und Sarah blickte automatisch zu Boden.
Innerlich schrie sie Ratet mal, auf wen ich warte!
Doch dann gab ihr Handy das schrille Heavy-Metal-Riff von sich, mit dem sich ihre Mutter meldete, und als Sarah es schnell wegdrückte, hörte sie Eva und Ashley lachen.
Plötzlich fühlte Sarah sich fehl am Platz. Sie steckte Ethans Geschenk in die Tasche und ging.
Er hätte sowieso niemals geglaubt, dass sie zufällig dort war, und sie
Weitere Kostenlose Bücher