Der Sturz aus dem Fenster
ausschloß. Kate würde bald mit der Studentin sprechen, die als Sekretärin in Adams’ Fachbereich gearbeitet hatte. Die Universität erschien ihr plötzlich wie ein Phantasiegebilde, eine windige Konstruktion, die sie bisher scheinbar vor der Brutalität der Außenwelt geschützt hatte. Was, wie sie Reed am Abend erzähl-te, eine ebenso alberne Vorstellung war wie ihre Theorie über den 101
Außerplanetarischen in einem UFO. »Denn«, hatte sie hinzugefügt,
»es gibt keine Außerplanetarischen. Es gibt nur uns.«
Kate und Reed gingen zu Arabellas Beerdigung. Zum Verhör ihrer Familie begleitete Kate die Polizei jedoch nicht. Zumindest für den Augenblick war es ihr lieber, diese Informationen aus zweiter Hand zu bekommen.
102
Neun
Wenn du einen Stapel aus deinen Gewinnen machen und sie auf ein Mal, alles oder nichts, riskieren kannst, und verlieren und wieder beim Anfang anfangen und nie auch nur ein Wort über deinen Verlust sagst Für den Tag nach Arabellas Beerdigung hatte sich Kate mit Susan Pollikoff, der früheren Sekretärin in Adams’ Fachbereich, verabredet, aber Arabellas Mutter bat telefonisch um ein Gespräch, und Kate verschob den Pollikoff-Termin. Arabellas Mutter bot zu Kates Erleichterung an, zu ihr ins Büro zu kommen. Kate hätte sie zwar gern zu Hause besucht, um zu sehen, wie Arabellas Familie lebte, aber die Vorstellung, in dem Raum, aus dem Arabella in den Tod gestürzt war, ein Gespräch zu führen, war zuviel für Kate, und, wie sie annahm, auch für Mrs. Jordan.
Ohne daß es ihr bewußt gewesen wäre, hatte sich Kate auf eine zornerfüllte Mrs. Jordan vorbereitet; wie sollte es anders sein, eine solche Reaktion war nur logisch und natürlich. Kate zur Zielscheibe dieses Zorns zu machen, war vielleicht unfair, aber nicht unverständlich. Als aus Mrs. Jordans Verhalten dann aber nur Trauer sprach statt Wut, und mehr als alles andere das Bedürfnis, die Tochter zu verstehen, spürte Kate förmlich, wie ihr Adrenalinspiegel sank. Erst jetzt wurde ihr bewußt, mit wieviel innerlicher Anspannung sie diesem Gespräch entgegengesehen hatte.
Mrs. Jordan war eine attraktive Frau Anfang vierzig. Kate hatte sie auf der Beerdigung nur von weitem gesehen, denn aus Angst, zudringlich oder neugierig zu erscheinen, hatte sie sich auf dem Friedhof und in der Kirche weit im Hintergrund gehalten. Kates Trauer war tief, und sie war dankbar, daß Reed bei ihr war, empfand aber seine Anwesenheit gleichzeitig als zudringlicher als ihre eigene.
Aber warum empfand sie sich als Eindringling? Wäre ich ihre Lehrerin gewesen, ihre Ratgeberin, ihre Freundin, könnte ich mich mit Recht zur Trauergemeinde zählen, dachte sie. Aber wie die Dinge stehen, werfe ich mir vor, schuld an ihrem Tod zu sein. Allein durch seine schützende Nähe schien es Reed zu gelingen, ihr diese Selbst-vorwürfe auszureden. Nicht zum ersten Mal war sie dankbar für seine Weisheit und Bereitschaft, ihren ungerechtfertigten Groll zu ertragen. In dieser seelischen Verfassung hatte Kate Mrs. Jordan in der Kirche höchstens als Personifizierung von Trauer, aber nicht als 103
Mensch wahrnehmen können.
Jetzt betrachtete sie die Frau vor sich prüfend, so wie auch sie prüfend betrachtet wurde. Wie bei ihrer Begegnung mit Arabella spürte Kate, daß ihre bewährten sozialen Antennen nicht so gut funk-tionierten wie üblich. Irgend etwas in der Atmosphäre entging ihr.
Wieder erinnerte sich Kate an das, was Toni Morrison über schwarze und weiße Frauen gesagt hatte: daß sie weit weniger gemeinsam hätten als schwarze und weiße Männer. Aber jetzt sträubte sich Kate gegen diesen Satz. Wieso soll das auf uns zutreffen, dachte sie: Wir sind mehr oder weniger gleichaltrig und beide berufstätige Frauen.
Natürlich, sagte sich Kate, ich bin keine Mutter, schon gar keine, deren Kind gestorben ist, aber darin unterscheide ich mich auch von vielen weißen Frauen. »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind«, sagte Kate spontan. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
»Ich dachte mir, hier in Ihrem Büro läßt es sich vielleicht leichter reden«, sagte Mrs. Jordan. »Ich habe ein paar Wochen Urlaub genommen. Ich arbeite für eine große Finanzierungsgesellschaft. Der Personalchef war sehr freundlich und sagte, ich solle mir so viel Zeit nehmen wie ich brauche. Aber ich glaube, ich gehe bald wieder arbeiten, Arbeit lenkt ab. Außerdem häufen sich die Akten, wenn ich zu lange fort bleibe.«
»Bei Arabellas Geburt müssen Sie noch sehr jung
Weitere Kostenlose Bücher