Der Sturz - Erzählungen
Versmaß war nicht unkompliziert, sie war plötzlich stolz, ihren Hänger hatte sie schon vergessen. Der Thebaner – wie hieß er doch? – hatte sich längst davonge-macht, Pannychis dämmerte wieder vor sich hin.
Manchmal trat sie vor das Heiligtum. Vor ihr ein ausgedehn-ter Bauplatz, der Apollotempel, weiter unten standen schon drei Säulen der Musenhalle. Die Hitze war unerträglich, aber ihr fröstelte. Diese Felsen, diese Wälder, dieses Meer – alles Schwindel, ein Traum von ihr, einmal würde dieser Traum vorüber und alles würde nicht mehr sein, sie wußte, alles war erstunken und erlogen, sie, die Pythia, die man als Priesterin 101
Apolls ausgab und die doch nichts als eine Schwindlerin war, die nach Launen Orakel zusammenphantasierte. Und nun war sie sehr alt geworden, steinalt, uralt, wie alt, wußte sie nicht.
Die Alltagsorakel gab die Nachwuchs-Pythia ab, Glykera V; Pannychis hatte die ewigen Dämpfe satt, hin und wieder, na gut, einmal wöchentlich, bei einem zahlungskräftigen Prinzen oder bei einem Tyrannen, setzte sie sich noch auf den Dreifuß, orakelte, auch Merops hatte ein Einsehen.
Und wie sie so in der Sonne saß, die ihr wohltat, so daß sie die Augen schloß, um die delphische Kitschlandschaft nicht mehr zu sehen, vor dem Seitenportal des Heiligtums an die Mauer gelehnt, in sich versunken, der halbfertigen Schlangensäule gegenüber, fühlte sie plötzlich, daß etwas vor ihr stand, wohl schon seit Stunden, etwas, das sie herausforderte, das sie anging, und als sie die Augen öffnete, nicht sofort, sondern zögernd, war ihr, als ob sie erst lernen müsse zu sehen, und als sie endlich sah, nahm sie eine ungeheure Gestalt wahr, die sich auf eine andere nicht minder ungeheure Gestalt stützte, und während Pannychis XI schärfer hinblickte, sanken die unge-heuren Gestalten auf Menschenmaß zusammen, und sie erkannte einen zerlumpten Bettler, der sich auf eine zerlumpte Bettlerin stützte. Die Bettlerin war ein Mädchen. Der Bettler glotzte Pannychis an, aber er hatte keine Augen, an Stelle der Augen waren Löcher, gefüllt mit schwarzem, verkrustetem Blut.
»Ich bin Ödipus«, sagte der Bettler.
»Ich kenne dich nicht«, antwortete die Pythia und blinzelte in die Sonne, die über diesem blauen Meer nicht untergehen wollte.
»Du hast mir geweissagt«, keuchte der Blinde.
»Möglich«, sagte Pannychis XI, »ich habe Tausenden geweissagt.«
»Dein Orakel ging in Erfüllung. Ich habe meinen Vater Laios getötet und meine Mutter Iokaste geheiratet.«
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Pannychis XI betrachtete den Blinden, dann das zerlumpte Mädchen, verwundert überlegend, was das denn alles zu bedeuten habe, noch ohne Erinnerung.
»Iokaste hat sich erhängt«, sagte Ödipus leise.
»Wer?« fragte Pannychis.
»Meine Frau und Mutter«, antwortete Ödipus.
»Tut mir leid, kondoliere.«
»Und dann habe ich mich selbst geblendet.«
»So, so«, und dann deutete die Pythia auf das Mädchen.
»Wer ist denn die?« fragte sie, nicht aus Neugier, sondern nur um etwas zu sagen.
»Meine Tochter Antigone«, antwortete der Geblendete, »oder meine Schwester«, fügte er verlegen hinzu, und erzählte eine verworrene Geschichte.
Die Pythia, die Augen nun weit geöffnet, hörte nur flüchtig zu, starrte auf den Bettler, der vor ihr stand, auf seine Tochter und Schwester zugleich gestützt, und hinter ihm waren die Felsen, die Wälder, weiter unten das angefangene Theater, endlich das unerbittlich blaue Meer, und hinter allem der eherne Himmel, diese grelle Fläche des Nichts, in das, um es auszuhalten, die Menschen alles mögliche projizierten, Götter und Schicksale, und als ihr die Zusammenhänge aufgingen, als sie sich mit einem Mal erinnerte, daß sie mit ihrem Orakel doch nur einen ungeheuerlichen Witz hatte machen wollen, um Ödipus den Glauben an das Orakel für immer auszutreiben, begann Pannychis XI plötzlich zu lachen, ihr Lachen wurde immer unermeßlicher, und sie lachte noch, als der Blinde mit seiner Tochter Antigone schon längst davongehumpelt war.
Doch ebenso plötzlich, wie sie zu lachen begonnen hatte, verstummte die Pythia, alles konnte nicht Zufall sein, fuhr es ihr durch den Kopf.
Die Sonne ging hinter dem Bauplatz des Apollotempels unter, kitschig wie eh und je, sie haßte die Sonne; die sollte man einmal untersuchen, dachte sie, das Märchen mit dem Sonnen-103
wagen und den Sonnenrossen war doch allzu lächerlich, sie wette: nichts als eine Masse von stinkenden, feurigen Gasen.
Pannychis
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