Der Suender und die Lady
Sie legte die Hand an Pucks Wange, hob den Kopf, küsste den Mann direkt auf den Mund und wich dann zurück, bevor er reagieren konnte.
„Morgen um elf. Im Park“, sagte sie, griff rasch nach ihrem Pompadour und wäre um ein Haar beim Aussteigen aus der Kutsche gestolpert. Pucks Lachen folgte ihr.
Ziemlich unelegant raffte sie die Röcke. Zu spät fiel ihr ein, dass ihr Schultertuch noch in der Kutsche ihres Onkels lag, doch das würde mit etwas Glück keinem der verschlafenen Diener der Hacketts und auch nicht dem Butler auffallen.
Und wahrscheinlich wäre sie auch unbemerkt in ihr Schlafzimmer gelangt, wo sie allein sein und über jeden Augenblick dieses Abends nachdenken wollte, hätte nicht ihr Vater aus dem Salon nach ihr gerufen. Das Letzte, was Regina erwartet hätte angesichts dessen, was er trieb, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war, dass er so früh zu Hause sein würde.
Sie ließ die Schultern hängen; ihr ganzer Körper sank wie in plötzlicher Erschöpfung in sich zusammen. Doch gehorsam drehte sie sich um und folgte dem Ruf ihres Vaters.
„Guten Abend, Papa“, sagte sie und knickste leicht, denn aus unerfindlichen Gründen schien ihm das jedes Mal Freude zu machen. Außerdem wäre sonst ein Kuss auf die Wange fällig gewesen. Nachdem sie wusste, wo er sich an diesem Abend aufgehalten und was er getrieben hatte, hätte sie lieber den Kaminrost geküsst als ihn.
„Wo ist deine Mutter? Ach, das ist auch egal. Wir haben Wichtigeres zu besprechen.“
Reginald Hackett war noch ein relativ junger Mann. Er war groß, überragte die meisten anderen Männer – aber nicht so groß wie Puck, stellte Regina fest und empfand einen geradezu lächerlichen Stolz darüber. Sein Körperbau war kräftig, besonders an Brust und Schultern, denn er hatte viele Jahre Seite an Seite mit seinen Matrosen gearbeitet, war in die Wanten geklettert, hatte Fracht geladen. Regina wusste davon, weil ihr Vater ihr Geschichten erzählt, sie in den Hafen mitgenommen und ihr seine Errungenschaften gezeigt hatte. Immer wieder erzählte er ihr, wie hart er für seinen Erfolg hatte arbeiten müssen, wie dankbar sie ihm für die vornehmen Kleider an ihrem Leib, für das Essen auf dem Tisch, für das Dach über ihrem Kopf sein musste.
Und dann erklärte er ihr, wie sie ihm das alles zurückzuzahlen hätte. „Nichts Geringeres als ein Earl, Mädchen, hörst du? Dann gebärst du ihm ein paar Söhne, machst mich zum Großvater des Erben, und niemand wagt es noch, sich zu erinnern, dass die Hacketts je Handelsleute waren. Zwei Generationen außerhalb der Hafenanlagen, Mädchen, mehr braucht es nicht. Und neben zahlreichen anderen Namen trägt dein erster Spross den Namen Reginald. Auch dafür bezahle ich. Ich habe es meiner Mutter versprochen, und so wird es gemacht, verstanden?“
Seine Mutter. Großmutter Hackett. Für ihren Vater stand sie für alles, was richtig und gut war in der Welt. Für ihre Mutter, die seinerzeit gezwungen war, die derbe, herrschsüchtige Alice Hackett bis zu deren Tod in ihrem Haus wohnen zu lassen, war sie der böse Geist, der Regina Dinge einflüsterte. Leticia liebte ihre Tochter, doch konnte sie nie ganz ihre Angst verbergen, dass Regina tief in ihrem Inneren ein bäuerliches Naturell hatte, das in einem unpassenden Moment ausbrechen und ihr Wappen und das ihrer Familie besudeln könnte.
„Papa, ich bringe schreckliche Nachrichten“, sagte Regina, als ihr Vater zur Ginkaraffe griff, das Einzige, was ihn mit ihrem Onkel Seth verband. Regina hatte gehofft, ihren Bericht bis zum Morgen aufschieben zu können, doch das war jetzt unmöglich geworden. „Unsere Kutsche ist heute Abend in die falsche Richtung gefahren, und Straßenräuber haben uns überfallen. Mir fehlt nichts“, fügte sie rasch hinzu, als ihr Vater herumfuhr, um sie zornig anzusehen. „Aber Miranda ist …“
„Was? Spuck’s aus, Mädchen! Was ist mit der blöden Göre? Ist sie geschlagen worden? Erschossen? Vergewaltigt?“
Regina nahm in einem Sessel Platz. „Nein“, sagte sie. „Verschleppt. Miranda ist verschleppt worden.“
Fragend zog er die Augenbraue hoch. Keine Spur von Sorge, von Mitleid. Lediglich Neugier. „Tatsächlich? Wohin verschleppt?“
„Sie wurde von den Straßenräubern entführt.“ Regina hasste es, dass ihre Stimme zitterte, hasste es, dass sie Angst vor ihrem Vater hatte. Doch sie hatte Angst. Er war eine so imposante Erscheinung, schüchterte sie schon allein durch seine Körpergröße
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