Der Suender und die Lady
nein, mein Büro liegt gleich hier.“ Wie zum Beweis benutzte Lamott, um sein Büro aufzuschließen, denselben Schlüssel, den er zum Öffnen der kleinen Tür verwendet hatte. „Und es ist kein Haus, Mr Claridge. Das da oben ist für die Besitzer bestimmt. Wie Halbgötter sind sie, wenn sie manchmal dort oben stehen, auf uns herunterblicken und aufpassen, ob wir auch arbeiten, ob wir stehlen. Wie ich gehört habe, ist das ganze Geld auch da oben. Ich war da noch nie. Keiner war jemals da oben, wenn ich’s mir recht überlege. Außerdem findet die eigentliche Arbeit hier statt.“
Puck spähte in das kleine unordentliche Büro, bevor er einen Fuß hineinsetzte. „Ach, du meine Güte, ja, das sehe ich wohl“, sagte er anerkennend und passte gut auf, wo Mr Lamott den schweren Schlüsselring verstaute, nachdem er aufgeschlossen hatte. Er hatte ihn auf seinem Schreibtisch abgelegt, auf einem Stapel geschäftlich aussehender Papiere. Wie praktisch. Doch den gesamten Ring an sich zu nehmen kam nicht infrage, denn sein Fehlen würde wohl ziemlich bald auffallen. Lieber nahm er nur den Büroschlüssel an sich, der länger war als die anderen und unverwechselbar schwarz.
Keine leichte Aufgabe, aber auch keine allzu große Herausforderung für einen gelehrigen Schüler des großen Gaston. Aber nein, unter Anleitung seines Kammerdieners hatte Puck gelernt, bedeutend Gewichtigeres als bloß einen Schlüssel verschwinden zu lassen. Vor allem der liebe Maurice Comte Angoulvant fragte sich vermutlich heute noch, wie die private Korrespondenz mit seiner Geliebten aus seinem verschlossenen Safe hatte verschwinden können, um dann als bunt verpacktes Geschenk an seine Gattin wieder aufzutauchen, die Gründe hatte, Vergebung für ihr eigenes kleines Abweichen vom Weg ihres Ehegelübdes einzufordern. Eindeutig eine Lösung mit viel weniger problematischem Potenzial als das eventuell tränenreiche Eingeständnis der Liaison der guten Lady mit le beau bâtard Anglais . Dass die verräterische Korrespondenz des Comte mit einem österreichischen Anarchisten gelesen und säuberlich wieder im Safe verstaut worden war, bevor die Briefe entfernt wurden, war dem geplagten Mann nicht in den Sinn gekommen … zumindest nicht vor seiner Verhaftung.
Puck streckte die Hand in Richtung Schlüssel aus, ließ diese jedoch geschickt links liegen und hob eine kleine schwarze Holzstatuette minderer Qualität auf, die er in den Händen drehte und wendete. „Was für ein ausgesprochen herrliches Stück, Mr Lamott! Afrikanisch? Ich halte mir etwas darauf zugute, bei jeder Gelegenheit so viel zu lernen, wie ich kann. Sie haben den Schwarzen Kontinent besucht? Ja, natürlich. Sie werden zahlreiche exotische Häfen angelaufen haben. Wie ich, ein schlichter Bankkaufmann, auf ewig in der Stadt gefangen, Sie um Ihre Abenteuer beneide, Mr Lamott! Sie müssen mir erzählen, wie Sie zu diesem Kunstwerk gekommen sind.“
Silas Lamott errötete vor Stolz und folgte mit dem Blick Pucks Händen, als er die Statuette noch einmal und dann noch einmal drehte. „Das liegt lange zurück, Mr Claridge, als ich noch eines der Schiffe kommandierte. Wir laufen die afrikanischen Häfen nicht mehr an. Nicht mehr, seit es die neuen Gesetze gibt.“
„Ah, ja“, sagte Puck, stellte die Statuette auf ihren angestammten Platz, zog reichlich ungeschickt die Hände zurück und hätte dabei um ein Haar einen Keramikbecher umgeworfen, der die Reste der Morgenschokolade des Mannes enthielt. „Hoppla! Da hätte ich beinahe Schaden angerichtet, wie? Verzeihen Sie, Sir.“
Der Schlüsselring steckte in seiner Tasche, der Büroschlüssel sollte in Kürze vom Ring gelöst sein.
Mr Lamott rückte den Becher zurecht und richtete die Statuette auf, die auf die Seite gefallen war, dann rettete er mit Pucks Hilfe den Stapel Papiere vor dem Sturz vom Schreibtisch.
Der Schlüsselring lag wieder auf dem Schreibtisch, kam unter dem abrutschenden Papierstapel zum Vorschein.
„Kein Grund zur Aufregung, Mr Claridge. Und meine Unordnung ist schuld. In den nächsten paar Tagen müssen wir sechs Schiffe seeklar machen, und fünf weitere sind letzte Woche eingelaufen und müssen entladen werden. Auf der Werft geht alles drunter und drüber.“
„Und dann komme ich und raube Ihnen Ihre kostbare Zeit mit meiner kleinen Anfrage. Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Mr Lamott. Gestatten Sie mir, mich kurz und knapp zu fassen. Ich habe … ein Problem, Mr Lamott. Eines, das, wie ich glaube,
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