Der sueße Kuss der Luege
Ersparnisse aufgebraucht wurden, waren der Bambusflechter und seine Frau nun wirklich sehr arm.
An einem Tage, da er sich ehrliche Sorgen machte, wie er für das kleine Wesen, das nicht wirklich menschlich war, passende Kleidung beschaffen könne, schlitzte er überm Nachdenken an einem Bambusstiel und sah voller Staunen einen Strom voller Goldmünzen aus diesem herausrieseln. Er verstand sofort, dass derjenige, der ihm und seiner Frau das Kindchen gesandt hatte, jetzt auch dieses Geld schickte, um es zu versorgen. So sammelte er die Münzen ein und ging sogleich zur Stadt, obwohl der Mond nicht voll war, und kaufte feine Seide und edlen Brokat. Dies verarbeitete seine aufopferungsvolle Frau zu einem Kimono und einer passenden Schärpe für ihr beider Kind. So zog die Zeit schnell dahin. Während die Tage dahinflossen, wurde das kleine Mädchen zusehends größer, und während der Zeit ihres Aufwachsens fand ihr Pflegevater in den Bambusstämmen immer neue Goldmünzen, mit deren Hilfe er sie nähren und kleiden konnte. In kaum drei Jahren war aus dem winzigen Kind eine voll erwachsene und zierliche Frau geworden. In dem gesamten Zeitraum hatte sie den beiden Alten eitel Freude und Wonne bereitet, wie diese sie nie vorher gekannt hatten. Sie erlernte schnell alles, was sie gelehrt bekam. Sie wurde eine junge und anmutige Frau – mit einer Geschwindigkeit, wie sie Sterblichen nicht gegeben ist.
Das alte Ehepaar fuhr fort, sie zu lieben und für sie zu sorgen. Sie verfügten jetzt über reichliche Geldmittel, die sie für die Tochter ausgaben, denn die Bambusstämme im Dickicht spendeten Goldmünzen stets dann, wenn sie ihrer bedurften. Für ihre eigenen Bedürfnisse jedoch versorgten sie sich durch fleißige Arbeit: er mit Bambusschneiden und sie, indem sie daraus Gegenstände zum Verkauf herstellte.
Die Nachricht, dass sie eine so liebliche Tochter besaßen, verbreitete sich allmählich bis in die Stadt.
»Wie ist es bloß möglich, dass der Bambusschneider und seine Frau – wir hörten davon – eine derart liebliche Tochter haben und sie so lange fern von uns hielten?«, redete das Stadtvolk zueinander. Aber niemals erfuhren die Leute, dass die beiden Alten sie noch keine drei Jahre in ihrer Pflege hatten. Sie sagten bei ihren Reisen zur Stadt, die sie immer zur Zeit des Vollmondes unternahmen, auch nie, dass ihnen dieses Kind auf so wunderbare Weise geschenkt worden war.
Binnen kurzer Zeit war es auch über die Stadt hinaus bekannt, denn Stadtleute sind nun mal schwatzhaft und redselig, dass der Bambusschneider und seine Frau eine völlig erwachsene Tochter besaßen, die schön war, unvergleichlich schön sogar, obgleich niemand sie je zuvor gesehen hatte. Sie verglichen sie mit einer Prinzessin und taten ganz recht daran. »Strahlend voller Licht und Schönheit«, so war ihr Ruf. Und die ehrerbietig und liebevoll angenommene Tochter der beiden Alten war das auch tatsächlich.
Am dritten Jahrestag ihres Kommens ins Haus der Eltern sah das Mädchen aus, als sei es reichlich siebzehn Jahre alt. Ihr Benehmen, ihre Haltung und ihr ganzes Aussehen, alles zeigte deutlich, dass dies auch ihr wirkliches Alter war. Die beiden Alten waren traurig, dass sie nicht tatsächlich volle siebzehn Jahre ihre Gesellschaft gehabt hatten, aber sie liebten sie darum durchaus nicht weniger. Für das Mädchen aber war nun die Zeit gekommen, sich zu verheiraten.
Die beiden alten Leute sagten zu ihrer Tochter: »Wir hören bei unseren monatlichen Besuchen in der Stadt, dass die Kunde von deiner großen Schönheit und Anmut sich verbreitet hat. Es gibt viele junge Männer von hohem Stande, die um dich werben möchten. Wir können den Gedanken nicht ertragen, dich nicht mehr in unserem Heim zu haben. Aber wir sind alt und werden auch nicht imstande sein, immer für dich zu sorgen. Dürfen wir sagen, dass du die jungen Männer, und nur solche jungen Männer, die deiner würdig sind und die die Reise zu unserem Bambuswäldchen unternehmen werden, empfangen willst?«
Und die Bambusprinzessin ließ ihren Kopf hängen und sagte ihnen, dass sie nicht den Wunsch habe zu heiraten. »Liebe Eltern«, fuhr sie fort, »es ist keineswegs der Grund, dass ich euch nicht verlassen möchte, dass ich nicht wünsche, die jungen Männer zu sehen, von denen ihr redet. Diese Jahre, die rasch dahingeflossenen Jahre, die ich bei euch gelebt habe, waren überaus glücklich für mich, und ich glaube, wohl auch für euch. Aber ich bin nicht, wie andere
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