Der sueße Kuss der Luege
Narbe auf meiner Brust wird bleiben. Und wenn ich nicht ein bisschen zu viel Speck auf den Rippen gehabt hätte, dann hätte ich den Aufenthalt in der Gefriertruhe nicht überlebt. Ein Gedanke, der mich immer mal wieder zum Lachen bringt, auch wenn ich für sehr lange Zeit kein Eis mehr essen möchte, keine Lasagne und erst recht keinen Streuselkuchen.
Andrea Reimann sitzt in Untersuchungshaft und wartet auf ihre Verhandlung, vor der mir jetzt schon graust, denn wir müssen alle vor Gericht aussagen.
Die Wohnung war zwar gleich zu Beginn des Einsatzes von Hinze und seinen Kollegen durchsucht worden, aber nur auf mögliche Verstecke, in denen sich Ida befinden könnte. Als dann später andere Beamte den Koffer in Idas Zimmer abgestellt hatten, wurde die Tapetentür schlichtweg übersehen. Jedes Team schob dem anderen die Schuld in die Schuhe, bis die Kriminaldirektorin Rolfs irgendwann die Verantwortung dafür übernommen hatte, dass sowohl der Koffer als auch Andrea Reimann eine Zeit lang unbeobachtet waren.
Ich finde es lächerlich, den Beamten einen Vorwurf zu machen, denn ich war dabei und weiß, wie hart alle von der ersten Sekunde an daran gearbeitet haben, Ida wiederzufinden. Nein, vielmehr sind wir doch alle mit daran schuld, dass Andrea so großen Hass entwickeln konnte. Ich glaube inzwischen, dass wir uns viel mehr für die Menschen interessieren müssen, die in unserem Leben eine Rolle spielen. Wir hätten das mit ihrem Sohn wissen müssen, aber Diego ist davon überzeugt, dass Andreas Leben schon sehr viel früher aus dem Ruder gelaufen ist.
Ihr Sohn Rainer ist trotzdem operiert worden. Yukiko hat dafür bezahlt und Andreas Hassgefühle damit sicher noch gesteigert. Ich konnte meine Schwägerin nicht davon abbringen, wollte ihr erklären, dass es gerade ihre Gutmütigkeit war, die Andrea so rasend gemacht hat, aber Yukiko hat darauf bestanden, dass mit dem Mafiageld nur Gutes getan wird. Sie hat gesagt, für ihre Entscheidung gäbe es zwar keine Regel von Karate, sondern nur die Weisheit von Konfuzius, aber die gedenke sie zu beherzigen: Das Wasser haftet nicht an den Bergen, die Rache nicht an einem großen Herzen.
Sebastian ringt sich manchmal zu einem Theaterworkshop durch, hängt aber sonst noch genauso herum wie vor Idas Entführung und wartet auf eine Traumrolle beim Fernsehen. Doch ich glaube, er schreibt heimlich ein Theaterstück.
Diego hat inzwischen seine Strafe für die Amtsanmaßung abgearbeitet, man hat ihn zum Glück nicht zu Gefängnis, sondern zu Sozialdienst verurteilt. Wir reden jetzt viel mehr als früher. Aber es fällt ihm sehr schwer, etwas von sich preiszugeben, und er muss immer wieder Witze über sein Leben machen, weil er kein Mitleid will, besonders nicht von mir. Dabei will ich ihn ja nur verstehen, will wissen, wie es ist, wenn man als kleiner Junge für seine schöne und liebevolle, aber leider psychisch kranke Mutter sorgen muss, oder wie es sich anfühlt, in einer Pflegefamilie aufzuwachsen, von der man nicht geliebt wird. Oder seine merkwürdige Beziehung zu Jan. Aber vielleicht muss ich auch lernen, dass es unmöglich ist, alles verstehen zu wollen, vielleicht reicht es auch, jemanden einfach nur zu lieben.
Heute ist der erste Tag seit Idas Entführung, an dem sie sich von ihrer Mutter weggetraut hat, der erste Tag, an dem Yukiko mir Ida anvertraut hat, und ich habe die ganze Zeit eine Scheißangst, dass etwas passieren könnte, etwas, das meine Schuld ist: Wir kentern, wir werden von Piraten gekapert, ein weißer Hai hat den Weg in den Main gefunden, ein Tsunami erwischt uns. Der Himmel fällt auf unsere Köpfe.
Irgendwas.
»Ihr denkt wohl, ich merke nicht, wenn ihr faulenzt?«
Diego dreht sich zu mir um und lächelt uns an. Seine türkisblauen Augen leuchten auf, weil Ida sich hemmungslos darüber freut, dass er mich endlich erwischt hat, und immer lauter und glucksender lacht, so als gäbe es nichts Lustigeres auf der Welt als meine Faulheit.
Wenn mich früher jemand gefragt hätte, was Glück ist, hätte ich nicht wirklich gewusst, wie ich das beschreiben soll, aber jetzt weiß ich es verdammt genau. Glück ist, in die Gesichter der Menschen zu schauen, die man am allermeisten liebt, und sie lachen zu sehen.
Ich nehme meine Hände aus dem Wasser, schüttele sie ein bisschen trocken und lege sie wieder auf die Paddel. Dann tauche ich sie tief in das braun-silbrige Flusswasser und ziehe sie voller Kraft durch, eins nach dem anderen.
Die
Weitere Kostenlose Bücher