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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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ähnlich, die Welt war gänzlich durchgereimt und vielfach widergespiegelt. Alles erinnerte an etwas – und alles war nicht das Rechte. Ich wanderte umher wie ein Kurzsichtiger ohne Brille, im Nebel und zwischen Trugbildern wie ein Blinder. Der Asphalt breitete sich vor mir zur Wasserfläche aus, darüber rollten, von mir weg in die Ferne, Wogen … Was war das für ein Schiffsheck und wohin war ich in See gestochen? Wogen, Photographien, Spiegel – oh, wie blind ich war! Ein Blinder, ein Sänger – ich stieß auf mein eigenes Spiegelbild und zuckte zusammen, als spiegelte sich jemand anderes, und wunderte mich über ein mir unbekanntes Gedicht, geschrieben allerdings von meiner Hand …
    Es hatte sich erfüllt, wovon ich nur geträumt hatte, als ich früher meine Verse zusammenstoppelte: Ich war ein Dichter!
Oh, da gibt es keine Täuschung, etwas ist Poesie oder ist es nicht. Ich hatte auch vorher ein untrügliches Gespür dafür gehabt, deshalb hatte ich mir über die eigenen Versuche nie Illusionen gemacht. Hier aber konnte es keine Zweifel geben; ich bemerkte gar nicht, wie sie entstanden, als ob nicht ich sie geschrieben hätte, ich konnte sie beurteilen, als wären sie nicht von mir – und sie waren es wert. Aber, mein Gott, wie wenig mich das tröstete! Die Gedichte waren das alles nicht wert, wie gut sie auch sein mochten, weder Dika noch mich, noch Helena …
    Wie war ich ihretwegen eifersüchtig! Zunächst trat dieser Virus in leichten, proustschen Formen auf; fand ich keine Ähnlichkeit unter den Passanten, wanderte ich durch Museen und Buchläden, ich suchte einen Widerschein ihres Gesichts quer durch die Jahrhunderte auf Porträts zu erhaschen, im Staub der Renaissance. Und in meiner Studentenzelle wurde das chronisch, da hing bald die eine, bald die andere Vorgängerin meiner unerkannten Helena, Botticelli folgte auf Ghirlandaio.
    Die arme Dika! wie eifersüchtig sie war auf diese Reproduktionen. Wie sie sich abfand mit der Nebenbuhlerin und sogar meinen Geschmack guthieß. Aber auf die eine folgte rasch eine andere, die mir plötzlich ähnlicher zu sein schien. Dafür akzeptierte Dika meine neuen Gedichte ohne Vorbehalt.
    Sie kam zu mir ins Zimmer gestürmt, in einem neuen Rock – ›Hübsch, nicht?‹ – und neuen Armreifen. Ganz Leichtigkeit, Heiterkeit, als wäre nichts, schwatzte irgendwelchen Unikram, brachte ein Blümchen mit, suchte eine Vase dafür – und fand ein Blatt. ›Einfach unglaublich, dass du von deinen eigenen Gedichten nichts verstehst!‹ Tränen stiegen ihr in die Augen, quasi vor Begeisterung, ihre Stimme zitterte. Und ich erblickte in ihrer Begeisterung solch tiefes Leid, dass sie es nicht ausgehalten hätte, wäre sie sich dessen bewusst geworden: Die Muse dieser Verse war eine andere, nicht sie.
    Aber Dika verzog keine Miene. Ich konnte das nicht mehr ertragen, weder ihren Blick, ihre Stimme, ihre Begeisterung noch diese ganze unbeschwerte Leichtigkeit, die, je beherrschter sie war, desto mehr nur nach Standhaftigkeit, Opferbereitschaft
und Sanftmütigkeit aussah. Ich konnte ihr Leid nicht ertragen und wurde grob. Wozu brauchte ich ihr Urteil, ihre Hilfe, ihre Ordnung – ob sie denn nicht begreife, dass der Mensch in bestimmten Situationen das Recht hat, allein zu sein? Sie schien meine Grobheit nicht zu bemerken, statt mir zu verzeihen, bat sie mich um Verzeihung und verschwand, nahm aber das Blatt vom Boden mit. Sie nämlich sammelte die Blätter und bewahrte sie auf, sonst wären sie verloren gewesen; ich konnte die Gedichte nur beurteilen, schätzte sie aber kein bisschen, sondern hasste sie beinahe, ebenso Helena, wenn ich Dika schließlich vertrieben hatte. Oh, ich hasste sie dermaßen, wenn sich hinter Dika die Tür schloss, dass ich sie, wäre ich ihr begegnet, erwürgt hätte wie Othello. Der Qualen wegen, die Dika von mir auszustehen hatte, hasste ich Helena womöglich sogar mehr als wegen ihrer Abwesenheit.
    Aber Dika war fort, und sogleich suchte ich sie angestrengt zu vergessen, kaum dass ich wieder allein war mit Helenas Abwesenheit. Ich riss die Reproduktion von der Wand: von wegen ähnlich! worin hatte ich bloß die Ähnlichkeit gesehen? Und wieder wanderte ich durch die Straßen, betrachtete jede Entgegenkommende, bis ich schier umfiel vor Müdigkeit und vor Gedichtzeilen. Erwachte ich, ließ ich ihnen widerwillig Gerechtigkeit widerfahren und warf sie zu Boden. Dann klaubte Dika sie auf.
    Oh, ich kannte Helenas Gesicht auswendig! Ich kannte

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