Der Symmetrielehrer
Aufstand – Niederlage, Niederlage, Niederlage … Doch erneut Aufstand und Krieg. Es war regelrecht ein Meer, die Geschichte war hier erstarrt in Wogen von Soldatengräbern, irgendwo weiter vorn donnerte, noch unsichtbar, die zerstörerische neunte Woge … sie offenbar schon in meinem, in unserem Jahrhundert. Häufiger brannten auf den Grabmälern Kerzen, häufiger lagen darauf Blumen, häufiger stand eine trauernde Gestalt daneben. Ich merkte nicht gleich, dass meine Hände nicht mehr leer waren, weder Kerze noch Blume: die Signalflagge eines flammenden Ahornblatts … Der Hain verjüngte sich vor meinen Augen, weiter vorn tat sich Weite auf; ein noch
ganz schüchternes, kindliches Junggehölz, doch schien da bereits gegraben, die Zukunft vorbereitet zu werden. Ich kehrte um, las da und dort die Namen von jungen Offizieren, podporucznicy, und Landwehrmännern; an einem Massengrab fand ich in der alphabetischen Namensliste auch mich selbst, einen mir unbekannten U. Vanoski, Legionär des polnischen Heeres im Ersten Weltkrieg … Dort legte ich mein Blatt nieder. Mir kam es auf einmal so vor, als ob ich gar keine Frau liebte und suchte, sondern in ihr die Heimat. Ein merkwürdiges Hochgefühl erfasste mich angesichts der Niederlage: Heimat, Volk, Polen nicht verloren … Jemand schaute mich an. Ich spürte es mit dem Rücken, seltsamerweise erschrak ich. ›Pan Polak?‹ fragte mich eine tiefe Frauenstimme. Ich konnte nicht Polnisch, aber auch sie war keine Polin, ich hörte einen deutlichen Akzent. Endlich wandte ich mich um – es war SIE ! Wir waren uns am Totengedenktag am Grab meines potentiellen Verwandten begegnet.
Doch es war NICHT sie. Ich begriff das erst am Morgen, in einem fremden Bett, beim Betrachten einer fremden Zimmerdecke. Und sie saß im Sessel und betrachtete mich, war gekleidet wie für eine Reise, es kam mir sogar vor, als stünde in der Ecke ein gepackter Koffer. ›Dzień dobry!‹ sagte sie mit Akzent. ›Kawa?‹ Mehr Polnisch konnte sie nicht, kein Wort. Ich trank Kaffee, sie drehte sich eine Zigarette nach der anderen und rauchte. Sie war aus Holland und konnte sonst nur Deutsch und Französisch, ich nur Englisch und Italienisch. So schwiegen wir vielsagend, als wüssten wir schon alles. Die Holländerin war viel schöner als meine Helena, ich konnte nur mit Mühe die so unbezweifelbare gestrige Ähnlichkeit wiederfinden. Sie war dunkler, stärker, irgendwie farbiger und, sozusagen, reicher. Dazu eine gewisse Schwere, Ernsthaftigkeit in der Haltung, den Bewegungen. Es siedete und tat sich etwas in diesem Monument, während sie rauchte und schwieg. Ihre riesengroßen Augen hatten die Eigenschaft, die Farbe zu wechseln oder eher das Licht, sie lebten ein stürmisches Leben in diesem unbeweglichen Koloss. Denn sie war, das sah ich plötzlich, riesengroß! Wie ein Gewichtsstück saß sie da, ihre Augen wur
den plötzlich besonders tief dunkel, sie küsste mich ungeschickt und sagte in halbem Englisch: ›Ich will dein Ehemann sein.‹ Ich musste lachen, sie war gekränkt; ich stimmte zu und versprach, zu ihr nach Amsterdam zu kommen.
Aber ich jagte bereits zurück, nach Hause, zu meiner Dika! Fort mit der Sinnestäuschung!
Das nämlich war die satanische Absicht gewesen! Mich in Erwartung zu stürzen, mir die Gegenwart zu nehmen, das Jetzt, das Wahre – also das Glück. Das Wahre jedoch, das, was mir von Gott zuteil geworden, was eigentlich mein war – das war Dika. Wie glücklich sie war über meine Rückkehr! wie fröhlich ich war … Und hier, unter den Schlägen der auf uns fallenden Wissenschaft, unter Jacquots Geschrei: ›Der Kaffee läuft über! Der Kaffee läuft über!‹, unter unseren stürmischen Küssen geschah es dann. Dikas Miene wurde plötzlich düster, sie riss sich aus meiner Umarmung, ging hinaus in ihre winzige Küche-Badezimmer-Flur-Toilette, putzte sich lange und wütend die Zähne, kam herein, im Hackschritt wie ein Soldat, schob mich in die Ecke hinter den Vorhang, bedeckte Jacquots Käfig mit ihrem Rock, baute die Bücherstapel wieder auf, zog das Sofa auseinander, machte geschickt und unschön wie ein altes Zimmermädchen, mit sorgfältigen und erbosten, mir unbekannten Bewegungen, das Bett, löschte das Licht und zog sich grimmig aus. Alles legte sie entschlossen ab, doch auf dem Stuhl stapelte sie es behutsam, als hätte sie die Kleider an sich gehasst, dann bedauert. Als sie aufs penibelste, wie ein Schüler in einer deutschen Abc-Fibel oder ein
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