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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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es, wie nur ein im Wald seine Kreise ziehender Verirrter den Wald kennt … wie ein vor Durst Sterbender die Wüste kennt! Seinen tödlich betörenden Reiz kann ich nicht beschreiben. Konnte es auch damals nicht. Dabei fügte sich meinen Worten damals alles, was unausdrückbar ist. In meinen damaligen Gedichten spürt sie ein jeder, wird sie aber auch nicht erblicken: gerade war sie noch hier – und schon nicht mehr. Schlampe, Fisch, Motte … Blasser als der kontrastloseste Abzug war ihr Gesicht! Das war nicht nur die Eigenheit einer misslungenen Photographie; eher konnte nur eine schwache Photographie wenigstens zum Teil ihre Verwischtheit ausdrücken … So ein Entgleiten von Blick und Gesichtszügen … Ich glaube,
Polinnen sind manchmal so. Hat Sie nie etwas nach Polen geführt? Sind ja berühmt, die Polinnen. Stehen im Ruf einer besonderen Schönheit. Einer besonderen, ja. Allein diese Vermutung führte mich umgehend in meine Urheimat, wohin es mich nie gezogen hatte und wo ich nie gewesen war. Stimmt schon, dachte ich, wieso gehe ich davon aus, dass das Schaufenster, in dem wir beide uns spiegeln müssten, sich dort befindet, wo ich lebe? Ein Schaufenster kann wer weiß wo sein. Die Welt schwoll in meiner Vorstellung zu Dimensionen an, wie nur die Verzweiflung sie kennt. Nur Ozean und Wüste beruhigten mich ein wenig, als Räume, wo es weder Geschäfte noch Schaufenster, noch Spiegelungen gibt. Aber ich wusste, am Ende der sieben Jahre würde das Schaufenster unweigerlich auftauchen; dann würde die Blende leicht klicken, Magnesium aufblitzen, und endlich käme es zum Bild. Ich wusste es, und doch konnte mich nichts aufhalten; war es da nicht gleich, an welchem Punkt der Welt ich sie zu suchen anfing? Bekanntlich gewinnen beim Roulette die Neulinge und verlieren die erfahrenen Spieler, die ihre Erfahrung zum System ausbauen. Warum eigentlich nicht in Polen? Ich durchreiste es kreuz und quer. Dort gab es sie zu Tausenden, solche wie sie. Mit den Polinnen ist es nämlich so: Wer zum erstenmal hinkommt, ist zunächst perplex – wo sind denn die berühmten schönen Frauen? Erstaunlich ausdruckslose, wirkungslose Gesichter. Sie sind gespannt, wollen sie zu Gesicht bekommen, Sie stellen mal so, mal so Ihre Linse ein, werfen sich schon ungenügenden Scharfblick vor, schließlich fahren Sie enttäuscht ab. Fahren ab, und da trifft Sie die Erkenntnis, nun träumen Sie von ihnen. Unabhängigkeit und Gefügigkeit, Nachgiebigkeit und Unnachgiebigkeit – die personifizierte Weiblichkeit. Geben sich Ihnen hin, doch eigentlich sind das gar nicht Sie. Bleiben dort, doch Sie waren nicht dort. Merkwürdiges Gefühl … Ich sah sie zu Tausenden, solche wie sie. Aber SIE war nicht darunter. Ich hätte sie unter Millionen erkannt, aber unter Tausenden – war sie nicht. Ich wäre für immer dort geblieben, wäre sie dort gewesen. Aber sie war nicht dort, und darum fuhr ich ab.
    Es wurde mir plötzlich so klar, dass sie nicht dort war, nicht in Polen! Mit dem Rückflugticket in der Tasche, wusste ich nicht, was anfangen mit dem letzten Tag, und es verschlug mich auf den berühmten städtischen Friedhof.
    Vielleicht wollte ich meine Niederlage beschönigen, aber auf diesem Friedhof war mir, als sei ich hergereist, um ein Gefühl für meine Urheimat zu bekommen, nicht der anderen Suche wegen. Ein wunderschöner Spätherbsttag ging zur Neige, der Friedhof war kein Friedhof, sondern ein gepflegter altehrwürdiger Park, an zweihundertjährigen Eichen und Ahornbäumen flammten die Blätter wie Nationalflaggen: die Bäume standen, und darunter lag die Nation … Zwischen den Baumstämmen huschten Lichter, da gingen Frauen in schwarzen Umhängen mit Kerzen in der Hand zu Gräbern, die noch gar nicht zu sehen waren. Plötzlich traten die Bäume leicht auseinander, uralte bemooste Steine tauchten auf, sie reihten sich zu einer endlosen Linie wie eine Gletschermoräne … danach schlossen die Bäume erneut ihre Reihen, um später noch einmal vor neueren Grabsteinen auseinanderzutreten; nun brach bereits das achtzehnte Jahrhundert an. Ab und zu brannten Kerzen auf einzelnen Steinen, andere flackerten weiter vorn. Ich ging den Kerzen nach, spürte die Leere in meinen Händen. Die Stille wurde dichter, die Erwartung wuchs. Ich meinte weiter vorn ein Tosen zu hören, es schwoll an, und das nächste Gräberbeet lag mir zu Füßen wie eine letzte Brandungswelle – ich war bereits im neunzehnten Jahrhundert. Krieg, Aufstand, Krieg,

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