Der Symmetrielehrer
poste restante mitzuteilen, wann genau. Ein Wahrsager trat an den Tisch, sein Papagei zog für uns Zettel: für mich ›Ruhm‹, für Helena ›Schönheit‹, Eurydika jedoch wollte nicht preisgeben, was sie hatte. Die Muschelsuppe war köstlich; von Verehrern umringt, war ich fröhlich und geistreich, und der französischen Helena neben mir und des Rotweins wegen war ich ein wenig berauschter als sonst – als stünde ich wie Odysseus am Bug einer antiken Galeere und segelte des Nachts,
windumweht, den Sternen, Sirenen und Wellen entgegen, segelte und sänge – plötzlich eine Art Riff, die Galeere zerschellte, ich stürzte in den Kielraum, und der Kielraum erwies sich als die Kneipe, in die wir, das wusste ich genau, in großer Runde gekommen waren, doch saßen wir allein da, Dika und ich. Sie hatte wieder eine dicke Nase. Sie hatte jetzt oft eine dicke Nase, ein sicheres Zeichen, dass sie eifersüchtig war. Insofern ich mir diesmal nicht sicher war, keinen Anlass geliefert zu haben, wurde ich besonders zornig und ging zum Angriff über: ›Was stand auf deinem Zettel?!‹ wütete ich. Sie war demütig wie immer, beruhigte und bedauerte mich, aber den Zettel zeigte sie mir trotzdem nicht, sie sagte, sie hätte ihn fortgeworfen.
Wie habe ich sie gequält! Ich war erbost, weil sie mich gehindert hatte, mich genauer mit Helena zu verabreden, ich rannte heimlich zur Post, wo natürlich nichts lag, schrieb leidenschaftliche Briefe nach Paris und las sie Dika als Skizzen für den Roman vor, und wieder kehrte ich ohne was von der Post zurück und rechtfertigte meinen Verdruss Dika gegenüber als die üblichen Schreibschwierigkeiten. Der Roman wucherte unterdessen in meinem Gehirn. Er hieß ›Das Leben eines Toten‹ und erzählte von einem Mann, der seine Seele verloren hat und dem Leben ihren Verlust vorwirft. Er beschließt, sich am Leben zu rächen, indem er seinen nutzlosen seelenlosen Körper zerstört, aber nicht durch einen gewöhnlichen Selbstmordakt, sondern auf die Art japanischer Kamikaze, indem er sich als Bombe zur Explosion bringt. Der Bombenmann bereitet sich lange auf seinen Akt vor, und sein sinnlos gewordenes Leben gewinnt zumindest ein Ziel. Sehr leicht und rasch erringt er alles, wonach er so erfolglos gestrebt hat, solange seine Seele am Leben war, solange er alles – Glück, Ruhm – tatsächlich wollte. Nun, da er es nicht mehr will, ist seine Karriere blitzartig und schwindelerregend, denn ihn interessiert daran nur noch die Effektivität der künftigen Explosion: Er beabsichtigt, sich in die Luft zu sprengen, wenn er ganz oben ist, um so das herrschende Böse zu besiegen. Er war schwach und hilflos und erfolglos, solange seine Seele am Leben war, und mit ei
nemmal ist er stark, präzise und unfehlbar beim Erreichen seines seelenlosen Ziels. Er fürchtet nichts, will nichts, sein Automatismus überwindet jegliches Hindernis. Er erreicht, was er will. Und als er seine sämtlichen irdischen Angelegenheiten mit größter Sorgfalt ins reine gebracht hat, niemandem etwas schuldig geblieben ist, da begibt er sich als vollberechtigter Gast auf einen grandiosen internationalen Empfang, mit zwei Granaten, die er an besonderen Riemen aufgehängt hat (die Riemen hatte ich mir bei Dostojewski ausgeliehen), quasi unterhalb des Gemächts. Und hier stockte ich vor dem weiteren Verlauf der Handlung, der Ausgang war mir unklar, ich wusste, dass er keine Furcht hätte, das Erdachte zu verwirklichen, wusste, dass sein Plan nicht aus irgendeinem äußeren Grund scheitern würde, dass ihn niemand ertappen, entlarven, entwaffnen würde, dass keinerlei Hindernisse aufträten, die das Erdachte vereitelten, aber er würde es aus irgendwelchen Gründen nicht vollbringen. Doch aus welchen? Vor dieser Fortsetzung trat ich auf der Stelle wie vor einer unüberwindlichen Barriere. Wie wenn sie ein schwarzer Spiegel wäre, der mir meine schöpferischen Geburtswehen zurückwarf als mein eigenes dunkles Spiegelbild. Und als ich schon keine Hoffnung mehr hatte, sondern ebenso hoffnungslos und mechanisch das leere Blatt Papier vor mich hinlegte, wie ich auf der Post nach poste restante fragte, da bekam ich aus Paris ein Telegramm von Helena, das auf ebendieser Post am Soundsovielten um soundsoviel Uhr ein Rendezvous anberaumte. Ich stand natürlich, wie Sie verstehen, schon eine Stunde früher dort, eine symbolische gelbe Rose in der Hand, die gleiche, wie seinerzeit sie mir eine geschenkt hatte. Seltsamerweise tauchte Helena
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