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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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Soldat in der Kaserne, alles auf dem Stuhl gestapelt hatte, legte sie sich hin. Ich stand immer noch dort, wo ich hingeschoben worden war, eins mit dem Vorhang, aufgelöst in der Dunkelheit, und hatte mich selbst vergessen. Ein seltsames Gefühl – mich gab es hier nicht. Hier lag Dika, unbeweglich, unter dem weiß schimmernden Leintuch; daneben, gestapelt, ihre Kleider, wie nicht mehr die ihren, wie die Kleider einer Toten, die den Verwandten zurückgegeben werden, und das Licht der Straßenlaterne drang wie Mondlicht durch einen Spalt im Vorhang, fiel auf all das. Nun war da eine solche Stille und Unbeweglichkeit
und Abwesenheit und Gefühllosigkeit, dass ich nicht weiß, wie viele Minuten, Jahrhunderte, Sekunden vergangen sein mochten, bis ich von dort, vom weißen Fleck, eine fremde, leblose Stimme hörte: ›Wo bist du?‹
    Am Morgen tranken wir Kaffee und hasteten in die Universität, als ob wir das jeden Morgen seit vielen Jahren so machten. Und nie wieder sollten wir uns küssen wie einst.
    Wie habe ich sie jedoch gequält! Angeblich war das meine schöpferische Suche, eine Art Superprojekt habe mich in Bann gezogen. Und das quäle mich, nicht ich sie. Ich erzählte ihr alles, aber nicht als Wahrheit, sondern als eine Romanidee, die mir schon damals gekommen sei, als ich zufällig auf dieses alberne Wolkenphoto stieß (es hing jetzt über unserem Bett). Ich erzählte ihr von der Suche meines Helden, von seinen Erlebnissen, alles, wie es war, mit einer Ausnahme: eine Dika hatte mein Held nicht. Er war allein, hatte nur seine Romanfigur – also keine Spur von Untreue. Das wird, sagte ich zu Dika, ein neuer Ritterroman, eine Art Ritter von der traurigen Gestalt, der den Satan, von dem ihm die Figur eingegeben wurde, durch seine Treue und Liebe besiegt und der die Versuchung dadurch überwindet, dass er daran glaubt, sie für wahr hält und nicht anzweifelt. Dika war jedesmal betrübt, wenn ich den Plot mit einem frischen Detail oder einer überraschenden, doch überzeugenden Wendung anreicherte. Sogleich gab sie ihre Eifersucht für Entzücken über den Höhenflug meiner Phantasie aus und durchforschte ihre philologische Bildung nach Analogien in der Weltkultur, dabei differenzierte und präzisierte sie meine Mythologie.
    Ich aber – suchte. Ob die nächste Ähnlichkeit oder die nächste Wendung des Romans. Was zuerst da war, weiß ich nicht. Ob die Romanidee die Ereignisse modellierte oder die Ereignisse die Romanidee vorantrieben. Ich brauchte mir nur etwas auszudenken, da traf es schon ein und setzte meine gesamte Vorwegnahme außer Kraft. Es brauchte nur etwas zu geschehen, da wurde es im Gedächtnis gelöscht und auf phantastische Weise zum Plot umgemodelt. Und stets im letzten Augenblick. Am Tag der Abreise. Ich reiste viel. Weniger weit als oft.
Flucht und Rückkehr, das war meine Droge. Ich hortete insgeheim die Tage der Ankunft, an diesen Tagen war ich glücklich, denn ich war für niemanden existent. Oh, dieser letzte Tag, dieser erste, an dem du frei bist!
    Nach Griechenland fuhren wir zusammen, Dika und ich. Erstmals in der Urheimat war in diesem Fall sie. Im Unterschied zu mir war sie sofort ganz dort. Wie stolz sie war auf alles ringsum! Sobald sie den Zug verlassen hatte, vom ersten Schritt an, wurde ihr Gang anders. Noch auf dem Bahnsteig kauften wir uns gegenseitig Sandalen, tauschten sie wie Ringe. Sie war glücklich, und ich fühlte mich in Griechenland auf einmal wie in unserem ersten Zimmerchen, als wir uns bloß küssten. Bloß küssten! Ich überlegte, vielleicht sollten wir umziehen … vielleicht hierbleiben … und alles könnte werden wie zuvor …
    Wir besuchten die dortige Universität, Dika hätte auch dort unterrichten können, und ich hätte mir zur Not irgendein besonderes Seminar einfallen lassen. Dika machte in der Universität für mich Werbung, so hatte ich dort eine winzige Dichterlesung für Eingeweihte, am Abend vor der Abreise. Meiner Meinung nach begriff niemand etwas, doch seltsamerweise war der Abend ein Erfolg. Und da erblickte ich SIE , wie sie durch den Mittelgang auf mich zukam, eine gelbe Rose in der Hand. Wieder war es Helena. Die Ähnlichkeit war verblüffend, jene Holländerin fiel dagegen völlig ab! Obgleich ich diesmal schon genau wusste, dass es nur Ähnlichkeit war. Trotzdem, beim Abschiedsessen in einem kleinen griechischen Restaurant tauschten wir Adressen und verabredeten ein Treffen; sie wollte in Kürze nach England kommen. Sie versprach, mir

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