Der Symmetrielehrer
schlechter Anagramme entwickeln als aus denen der großen Männer, sie taugten höchstens zu Spitznamen.
Oneday hatten wir schon, John war eindeutig Gerstenkorn [ 48 ] , schlicht – Barley, ich bildete mir aus Tristram Shandy ganz wunderbar Shydream [ 49 ] , aber die Freunde wurden neidisch und widersetzten sich: Ernest ist und bleibt Ernest! – sie ließen Wildes Verdikt in Kraft.
So waren wir von nun an Oneday, Barley und Ernest. »Solange das Schicksal noch nicht Gestalt angenommen hat, sind wir am Leben«, resümierten wir. Die Frage, ob wir, was herausgekommen war, nicht als Pseudonyme nutzen sollten, wurde vorerst noch diskutiert.
Alle waren jedoch zufrieden. Dafür ist ein Klub ja letzten Endes da, dass man sich als Gentleman fühlt und nicht als Tattergreis.
Murito protokollierte penibel die Diskussionsbeiträge, verwahrte die Protokolle vor unseren Augen im Safe, schloss sorg
fältig ab, rüttelte zur Sicherheit noch an der Tür und übergab den Schlüssel unserer Präsidentin Gerda. (Anzumerken wäre noch, dass die beiden als offizielle Personen in diesen Papieren unter ihren vollen, in Hinblick auf ihr SCHICKSAL allerdings bedeutungslosen Kodenamen bzw. Anagrammen figurieren.)
So waren wir nun zu fünft: Gerda, Oneday, Barley, Ernest und Murito (die Korrespondierenden Mitglieder nicht gerechnet). Ein Quintett, sozusagen. Zur Wahl von Korrespondierenden Mitgliedern schritten wir jetzt mit noch höheren Anforderungen.
Den Priester, der mit der Kirche gebrochen hatte, lehnten wir beispielsweise gleich ab. Und nicht weil wir so fromm gewesen wären, er gefiel uns einfach nicht, mitsamt seinem »Evangelium des Judas«. So hieß sein Roman, und er trug seinen Titel zu Recht.
Er handelte davon, dass in einer geheimnisvollen Höhle außer den vier kanonischen Evangelien auch andere gefunden wurden, von Thomas, Philippus und anderen Aposteln, auch eines von Maria Magdalena und sogar eines von Judas. Ja, und aus diesem Judas-Evangelium ging hervor, dass Jesus ein gewöhnlicher Außerirdischer war, ein Kundschafter, der wusste, er würde bestimmt entweder gerettet oder wieder auferweckt werden; Judas hingegen wusste um Jesu interplanetarische, aber nicht göttliche Herkunft und opferte sich, um die Echtheit des Jesus-Mythos zu bestätigen und der Lehre, an die er fester glaubte als die anderen, nicht den Boden zu entziehen.
In diesem Sinne habe sich eben Judas geopfert und sei der Verehrung der gesamten Menschheit würdig. Der Autor nutzte geschickt kleine Widersprüche und Unstimmigkeiten in den kanonischen Texten, um sein Sujet zu begründen und zu entfalten. Es war uns auf einmal langweilig und zuwider, das alles anzuhören, und wir rieten dem Expriester, zu bereuen, solange es nicht zu spät wäre, und zu dem frommen Dienst zurückzukehren, zu dem er geweiht war. Für uns verfügten wir, einem Sujet Außerirdische einzuverleiben sei eines Autors mit Selbstachtung unwürdig.
Aus einer anderen Reihe von Gründen passte uns auch der zu Hoffnungen berechtigende Politiker nicht. (Ich befürchte ja, dass wir ihn beneideten, denn er war vornehmer Abkunft und dick wie Hamlet, das Problem »Sein oder Nichtsein« kümmerte ihn jedoch überhaupt nicht; er war , und das sogar fast zu sehr: schön trug er seine Kleidung, schön nippte er am Kognak, schön rauchte er die Zigarre.) Obgleich sein ungeschriebener Roman »Geschichten der 20. Jahrhunderte«, ehrlich gesagt, nicht schlecht war, hatte aber vor allem ich starke Einwände, weil sein Roman wie der meinige auf einer Zeitreise basierte. Bei ihm verstieß ein Schüler vom Ende des 21. Jahrhunderts während des Geschichtsunterrichts gegen die Disziplin, indem er auf einer Exkursion durchs 20. Jahrhundert eine verbotene Frucht abriss und aufaß, worauf er unerträgliche Probleme im Bauch bekam (bedenken Sie nur, worein sich ein jahrhundertaltes Lebensmittel verwandeln kann!) und für einen Moment vom streng abgesicherten neutralen Pfad abwich. Als er sich im vorigen Jahrhundert erleichtert hatte, sah er sich zudem genötigt, das einzige zu nutzen, was er bei der Hand hatte, nämlich aus dem Geschichtsbuch eine Seite herauszureißen, auf der über das 20. Jahrhundert bereits alles klar gesagt war. Diese Seite hob sinnigerweise eine Art Geheimdienst auf, und als dieser sich über einige Ereignisse vom Ende des eigenen Jahrhunderts informiert hatte, suchte er sie abzuwenden, was dann aufgrund von Zeitbrüchen Katastrophen nach sich zog und eine Reihe
Weitere Kostenlose Bücher