Der Symmetrielehrer
geschrieben hatten.
»Los, du bist der erste!« sagten wir uns gegenseitig, und keiner konnte sich entschließen. »Ach, ich habe erst Skizzen … ach, ich habe erst angefangen … ach, ich habe erst eine Idee im Kopf«, sagten wir alle.
»Dann erzähl doch!« bedrängten wir zu zweit den dritten. »Ach, es muss erst noch reifen, zu erzählen habe ich Hemmungen.« Oder: »Ich bin abergläubisch, einmal erzählt, verflüchtigt es sich!« Oder … Jedenfalls, eine Ausrede fand sich immer, bis sich dann, nach dem zweiten oder dritten Gläschen, einer inspiriert fühlte, begabter als die anderen, und anfing, mit wieder mal einer genialen Idee Eindruck zu schinden: »Mein Leben lang geht mir nicht ein, wie Shakespeare und Cervantes, ohne voneinander zu wissen, es fertigbrachten, an ein und demselben Tag zu sterben! Kommt es euch nicht auch so vor …« – und los ging es! Im Endeffekt kam es uns nicht so vor wie ihm, und der Erzähler trollte sich entmutigt und verstimmt, die anderen beiden hatten, im Gegenteil, sogar frischen Mut gefasst. Dafür blieb an dem Pechvogel sogleich der Spitzname Oneday [ 45 ] kleben, um so mehr, als alle diese Buchstaben in seinem Vor- und Nachnamen vorkamen. Wer war nochmal unser Oneday? Ah ja, William!
Unser System war streng abgeschottet, jemand von draußen war kategorisch nicht zugelassen.
Eines Tages aber war William-Oneday irgendwo Jerome K. Jerome [ 46 ] begegnet, einem alten Freund seines Vaters, und hatte ihn eingeladen, mit uns zu Abend zu speisen. Wir schätzten den Greis seines grandiosen Buches wegen, mit dessen Helden wir uns oftmals verglichen, insgeheim verehrten wir ihn dafür, dass er sonst nichts Gleichrangiges geschrieben hatte, und wir konnten es Oneday nicht abschlagen.
Oneday spendierte ein opulentes Mahl, wir speisten, dann trugen wir dem Meister unsere Arien vor.
Der Roman, den John »schrieb« (»Tea or Coffee?«) und nun kurz nacherzählte, handelte von der unglücklichen Liebe zu zwei Schwestern gleichzeitig, von der brennenden Eifersucht der einen auf die andere und des Helden auf jede der beiden.
Der Meister verdaute, schnaufte schwer im Polstersessel, auf seinen Spazierstock gestützt, seinen beeindruckenden silbernen Schnauzbart drapiert über den Elfenbeinknauf, auf dem fest sein Kinn ruhte. In der Maske unerschütterlichen Wohlwollens war sein Gesicht erstarrt. Sein Urteil über Johns Werk äußerte er allerdings unzweideutig:
»Schon eine zu heiraten ist unmöglich, und dann erst zwei!«
Und er lauschte dem nächsten.
Onedays Prosastück (»Hamlet's Inheritage«) war dem Mäzenatentum als Berufung und Bestimmung gewidmet. Zwei bedeutende Textilunternehmer treffen sich auf der jährlichen Messe in London und diskutieren, wozu sie Geld verdienen und für wen es am aussichtsreichsten auszugeben wäre; der aus Barcelona gibt es für die verrückten Ideen des jungen Architekten Gaudi aus, der aus Deutschland für die reifen und gesunden Wirtschaftsideen von Karl Marx. Beide halten ihre Begünstigten für Genies.
Beim Wort »Genie« fuhr der alte Meister hoch.
»Habe noch nie von diesen Leuten gehört … Im übrigen verstehe ich nichts von Wirtschaft, noch weniger von Architektur. Und Sie, junger Mann?«
Der junge Mann war ich.
»Bloß, bitte, kein Wort über Musik!« warnte er kategorisch. »Mir ist ein Elefant aufs Ohr getreten.«
So beschloss ich, dem Greis zu schmeicheln, indem ich ihn gleichsam mit meinem geliebten Sterne verglich. Meine Erzählung hieß »Sternes Lachen« und war dem Thema gewidmet, wie sich ein Verehrer von Tristram Shandy mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit begibt, um die Scherze und das Lachen des wunderbaren Autors mit dem Phonographen aufzuzeichnen, und wie es ihm sogar gelingt, ihm zu begegnen, bloß reproduziert der Apparat nach der Rückkehr statt Lachen nur Grunzen und offenkundiges Schnarchen.
Beim Wort »Schnarchen« schreckte Jerome K. Jerome verstört auf.
»Wer ist Sterne? Und wo ist er! Sind das Sie?« fragte er mich.
Ich stritt es gar nicht erst ab.
»Als hätten wir nicht an Wells und Conan Doyle schon mehr als genug!« verfügte er, während er sich mühsam aus dem Sessel hochschaffte. »Ihr seid nette Burschen … schreibt doch, wenn ihr solche Lust dazu habt.«
»Was meinst du, wessen Erzählung hat ihm besser gefallen?« fragte mich John, grundlos giftig.
Ich revanchierte mich: »Natürlich deine!«
»Wir brauchen frisches Blut!« verfügte William, als er den Greis heimgebracht
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