Der Täter / Psychothriller
legte den Finger an den Abzug. Jede Phase im Bewegungsablauf spürte er bis ins kleinste Detail. Die Spannung in seinem Finger am Abzug aktivierte die Sehne an seinem Handrücken. Als er die Waffe hob und das Handgelenk ausrichtete, um sie ruhig zu halten, fühlte er die Muskeln im Unterarm. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Im Kopf stieg ihm eine Flut von Erinnerungen auf. Er befahl seinen Augenlidern, sich zusammenzukneifen, um keinen Funken Zweifel zuzulassen. Also, dachte er. Los. Es ist so weit.
Simon Winter drückte sich den Lauf seines Revolvers gegen den Gaumen und fragte sich, ob er den tödlichen Schuss noch spüren würde. Und in dieser Sekunde des Zauderns, dieser winzigen Verzögerung wurde die Stille, die er um sich legte, durch ein lautes, energisches Klopfen an der Wohnungstür erschüttert.
Das Geräusch krachte in seine selbstmörderische Konzentration und ließ ihn heftig zusammenzucken.
Im selben Moment wurden ihm Dutzende kleiner Empfindungen bewusst, als forderte die Welt mit einem Schlag seine Aufmerksamkeit. Vom Druck, den er mit seinem Finger am Abzug ausübte, schien ihm jeden Moment die Haut zu platzen; wo er mit einem glühenden Schmerz und rascher Umnachtung gerechnet hatte, schmeckte er jetzt das beißende Metall des Revolverlaufs und würgte vom stechenden Geruch der öligen Reinigungsmittel, mit denen er die Waffe gesäubert hatte. Seine Zungenspitze stieß an den eisigen Stahl des Abzugbügels, und er hörte seinen pfeifenden Atem.
In der Ferne dröhnte der Dieselmotor eines Busses vorbei. Er überlegte, ob es der A-30 Richtung Ocean Drive oder der A-42 auf dem Weg zur Collins Avenue war. An der Fensterscheibe summte in Panik ein Insekt, und ihm fiel ein, dass an einem der Fliegengitter ein Riss zu flicken war. Er öffnete die Augen und ließ die Waffe sinken.
Es klopfte ein zweites Mal und noch energischer an der Tür. Die Eindringlichkeit setzte seine Entschlusskraft außer Gefecht. Er legte seinen Revolver auf den Abschiedsbrief und stand auf.
Draußen hörte er jemanden rufen: »Mr.Winter, bitte …«
Die Stimme klang schrill und verängstigt. Die Stimme klang vertraut.
Es ist schon dunkel, dachte er. Seit zwanzig Jahren hat nach Sonnenuntergang niemand mehr an meine Tür geklopft. Für einen Moment vergaß er, dass ihm das Alter in den Knochen saß, und eilte zur Tür. »Ich komm ja schon, ich komm ja schon …«, rief er laut, bevor er mit der vagen Hoffnung öffnete, etwas Bedeutsames hereinzubitten.
Die ältere Frau, die vor der Wohnung stand, versprühte Angst wie einen Funkenregen. Ihr Gesicht war blass und starr, aufs äußerste angespannt, und sie sah Simon Winter derart hilflos an, dass er wie unter einer starken Böe einen Schritt zurücktrat und einen Moment brauchte, bis er seine Nachbarin, die seit nunmehr zehn Jahren ihm gegenüber wohnte, wiedererkannte.
»Mrs.Millstein, was ist denn passiert?«
Die Frau streckte die Hand aus und packte ihn am Arm, während sie immer wieder den Kopf schüttelte, als wollte sie ihm mitteilen, dass ihr vor Angst jedes Wort im Halse stecken bleibe.
»Fehlt Ihnen etwas?«
»Mr.Winter«, brachte die Frau schließlich langsam zwischen kaum geöffneten Lippen heraus, »Gott sei Dank sind Sie zu Hause. Ich bin so allein, und ich wusste mir nicht zu helfen …«
»Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Was ist passiert?«
Sophie Millstein trat schwankend näher. Wie ein Bergsteiger, der in den Abgrund zu stürzen droht, grub sie Simon Winter die Nägel in den Arm.
»Ich hab’s zuerst nicht geglaubt, Mr.Winter«, fing Sophie Millstein leise an, doch dann gewann sie an Fahrt, bis sich ihre Worte förmlich überschlugen. »Ich glaube, keiner von uns konnte es glauben. Es schien alles so lange her. Wie konnte er hier sein? Ausgerechnet hier? Nein, das schien einfach zu absurd, also hat es keiner von uns geglaubt. Weder der Rabbi noch Mr.Silver, noch Frieda Kroner. Aber wir haben uns geirrt, Mr.Winter. Er
ist
hier. Ich habe ihn heute selbst gesehen. Heute Abend vor der Eisdiele in der Lincoln Road Mall. Ich kam raus, und da stand er. Er hat mich nur angeblickt, Mr.Winter, und da wusste ich es. Er hat Augen wie Rasierklingen, Mr.Winter. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Leo hätte es gewusst. ›Sophie‹, hätte er gesagt, ›wir müssen jemanden anrufen‹, und er hätte die Nummer gleich parat gehabt. Aber Leo lebt nicht mehr, ich bin ganz allein, und jetzt ist er hier.«
Sie sah Simon Winter hilflos an.
»Er wird auch
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