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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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heranzukarren, und er sich weniger ablenken konnte als ich. In den drei Bauernhäusern des Weilers befanden sich gerade mal fünfzehn Bücher, darunter sieben Bibeln.
    Die Zeit des Lärms – Lärm und Nebel hatte es auch bei ihm gegeben – verbrachte er fast ununterbrochen in einem Kellergewölbe. Wie ich hatte er unaussprechliche Angst, unaussprechliche Sehnsucht nach Menschen, und genau wie ich hatte er jegliche Hoffnung schließlich aufgegeben. Sein Plan war es gewesen, sich noch in der Woche unseres Zusammentreffens zu erschießen, da er sämtliche Lebensmittelvorräte der Bauersleute so gut wie aufgebraucht hatte. Als er mich entdeckte, glaubte er zunächst an eine Täuschung. Da ich jedoch nicht einfach wieder verschwand, beobachtete er mich aus der Entfernung. Das Unglück hatte ihn dermaßen mürbe gemacht, dass er es für völlig ausgeschlossen hielt, einen leibhaftigen, einen lebenden Menschen zu sehen. Und so schoss er irgendwann in die Luft und rief zur Scheune hinüber, das Wesen solle sich zu erkennen geben, es solle sich zeigen. Genau diese Worte aber hatte ich nicht verstanden, die Laute nicht einmal als Gesprochenes erkannt, nur den Schuss als solchen doch richtig identifiziert. Und dann stieg er in die Scheune, fand mich mit geschlossenen Augen, glaubte an einen Trick, kniete sich auf meine Brust, griff mir an den Hals und hielt eine große Taschenlampe mit grellem Lichtstrahl vor mein Gesicht.
    Wir hatten uns also gefunden. Zwei Verlorene waren durch Zufall in der endlosen Einöde aufeinander getroffen.
    Was für ein ungeheures Ereignis!
    Der Freudentaumel hielt zwei Tage an. Wir schliefen nur wenig – und berauschten uns an und mit unseren Reden. Wir konnten unser Glück kaum fassen. Und ich wunderte mich, überhaupt wieder empfinden zu können. Denn bis zu jenem Zeitpunkt hatte meine Seele in tiefer Apathie vor sich hingedämmert. Der ganz kleine Rest Lebensglut in mir war also fulminant entfacht worden; und die Flammen der Freude brannten binnen Kürze die große Hoffnungslosigkeit nieder.
    Und mehr noch: Nachdem sich der erste Freudentaumel gelegt hatte, und ich wirklich begriff, was geschehen war – das Glück wurde dabei immer ruhiger und tiefer -, wollte ich nicht mehr sterben. Es war mir plötzlich klar, dass ich meine Wanderung zu dem tief verschneiten Marie-Friedhof nicht fortsetzen würde. Wenn ich es mir heute recht überlege, war das schon ein kleines Wunder. Denn der Entschluss, ihre letzte Ruhestätte aufzusuchen, um selbst die endgültige Ruhe zu finden, hatte absolut festgestanden – und dann, ohne innere Kämpfe, ohne das Gefühl, in einen Zwiespalt geraten zu sein, rückte ich schlagartig davon ab.
     
    Finn erging es nicht anders.
    Auch er hatte beschlossen, zu sterben. Und wäre ich drei oder vier Tage später auf den Weiler gestoßen, vermutlich hätte ich einen Toten vorgefunden – wenn ich ihn überhaupt entdeckt hätte -, und dann wäre mir wohl kaum in den Sinn gekommen, dass dieser Tote noch kurz zuvor ein Lebender gewesen war. Vorausgesetzt, der Frost hätte seinen Leib bereits in Beschlag genommen. Als Finn begriff, dass ich ein realer Mensch war, gab er sofort sein Vorhaben, sich in den nächsten Tagen zu erschießen, auf. So erzählte er es mir später. Er empfand unsere Begegnung als eine Fügung, als einen Schicksalswink – und auch als Aufforderung, weiter durchzuhalten, gemeinsam zu kämpfen, gegen das Unglück, gegen das Mysterium, für das Leben.
    Unsere Entscheidungen trafen wir in der Stille, tief in unseren Herzen. Ohne mit dem anderen darüber zu beraten, ohne mit dem anderen darüber zu sprechen. Und Finn war der Erste, der seine Entscheidung in Form einer Frage aussprach: »Wollen wir zusammenbleiben? Wollen wir es gemeinsam versuchen? Vielleicht schaffen wir es! Sterben können wir noch immer.«
    Ich zögerte nicht eine Sekunde und antwortete: »Ja! Lass es uns versuchen. Vielleicht schaffen wir es.« Wobei mir eigentlich nicht klar war, was genau wir schaffen wollten; ich wusste nur, dass ich leben wollte, gemeinsam mit Finn – diesem mir zu jenem Zeitpunkt vollkommen fremden Menschen.
    Und dann schrien wir hinaus in die Nacht, über den Schnee und hinauf in die schweren Wolken: »Leben! Leben! Leben! Uns bist du noch lange nicht los!« Wir umarmten uns, lachten – mein Gott, wie lange hatte ich nicht mehr gelacht! – und beschlossen, in meine Stadt, zu meiner Wohnung zurückzuwandern. Weil es in den Häusern von Finns Weiler nichts mehr zu

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