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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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oder aus Kalkül? Theoretisch könnte er ja auch mich verlassen. Weil er mich nicht mag, weil ich ihm zuwider bin. Und somit strenge ich mich besonders an, ihm zu gefallen. Weil ich Angst, irre Angst davor habe, wieder alleine zu sein. Ob es ihm auch so geht? Sind wir verdammt dazu, uns nett und sympathisch zu finden? Wie würde ich mich ihm gegenüber verhalten, wenn alles normal wäre? Wenn ich ihn zum Beispiel in einer Kneipe kennengelernt hätte. Wäre ich dann genauso engagiert wie jetzt? Natürlich nicht. Das ist doch klar. Die Grundfrage aber ist: Würde ich ihn unter normalen Umständen genauso beurteilen, wie ich es jetzt tue? Und mein Urteil fällt durchaus positiv aus. Bis jetzt habe ich nichts Unangenehmes, nichts Befremdliches an ihm bemerkt. Aber vermutlich ist es müßig, darüber nachzudenken: Was wäre, wenn …
    Natürlich schweißt das Unglück ungemein zusammen. Vielleicht zwingt es uns sogar zu einer so großen Selbstdisziplin, dass wir unsere schlechten Seiten gänzlich unter Kontrolle halten und wir als durchaus gute Menschen dastehen. Vielleicht verschwindet gar infolge der ungekannten Disziplin das Schlechte ganz aus unseren Herzen.
    Wie auch immer. Ich will alles so nehmen, wie es ist. Grübeln und Spekulieren hat keinen Sinn. Zu viel Bedenklichkeit zerstört die Gegenwart – und nur um sie geht es. Um nichts anderes.

32. EINTRAG
    Es ist Abend. Finn liegt auf der Couch und liest. Ich sitze am Tisch, schreibe und rauche. (Finn ist Nichtraucher.) Ich habe ihm vorhin viel von Marie erzählt. Am Ende sagte er: »Ja, die Schuld bleibt. Aber man kann immer wieder neu beginnen – und es dann besser machen.« Man kann immer wieder neu beginnen: So habe ich es noch nie gesehen.
    Wie viel Trost in diesem Satz liegt! Aber auch die Aufforderung, das Vergangene zu akzeptieren, loszulassen und andere Wege zu gehen.
     
    Ich möchte ein wenig über Finn schreiben. Er ist sechsunddreißig Jahre alt und ein Riese. Auf einen Meter achtundneunzig bringt er es. Und da ich fast dreizehn Zentimeter kleiner bin, muss ich immer zu ihm aufschauen. Was für mich ungewohnt ist, da ich sonst eigentlich immer der Größere war – oder Freunde auf Augenhöhe hatte. Und sehr hager ist er. Dünn sei er schon immer gewesen, sagt er, während der letzten Monate jedoch habe er noch mehr abgenommen. Weil seine Lebensmittelvorräte aufgebraucht waren – und weil die Lust zu essen, ähnlich wie bei mir, immer mehr nachließ.
    Was gibt es zu seinem Äußeren noch zu sagen? Seine Haare sind dunkelblond und recht kurz. Er hat große Hände und noch größere Füße, braune Augen, eine fast senkrecht verlaufende lange Narbe auf der rechten Wange und strahlend weiße Zähne (die waren mir bei unserer Begegnung in der Scheune schon besonders aufgefallen). Ich glaube, dass er nicht als »schöner Mann« durchgehen würde, aber als durchaus markanter Typ.
    Auch ihm war im vergangenen halben Jahr sehr daran gelegen gewesen, trotz Unglück und Hoffnungslosigkeit körperlich nicht zu verwahrlosen. Das heißt, er hat sich regelmäßig gewaschen und rasiert, regelmäßig die Haare, die Fuß- und Fingernägel geschnitten.
    Nachts schnarcht er manchmal etwas. Dann schrecke ich auf – und ich brauche stets mehrere Denkanläufe, bis ich kapiere, dass er es ist, dass er der ist, den ich vor Wochen getroffen habe, dass er Finn heißt, und dass dieses im ersten Moment seltsam anmutende Geräusch nichts Bedrohliches bedeutet. Er schläft immer auf meiner Wohnzimmercouch, die Verbindungstür zwischen Wohn- und Schlafzimmer lassen wir geöffnet. Tagsüber ist sie geschlossen.
    Als die Welt noch nicht aus den Fugen geraten war, arbeitete Finn in einem Architekturbüro und beschäftigte sich hauptsächlich mit dem Ausbau alter Dachböden. Es bereitete ihm Freude, obwohl er vor über zwanzig Jahren ganz andere Sachen im Kopf gehabt hatte. Große Architektur wollte er entwerfen, Denkmäler erschaffen, in Amerika und Asien arbeiten, ja, überall auf der Welt Maßstäbe setzen. Mit viel Idealismus und auch einer Portion Größenwahn hatte er sein Architekturstudium begonnen und absolviert. Im Laufe der Zeit aber musste er dann einsehen, dass er nur gutes Mittelmaß war und ihm die ganz großen Würfe nie gelingen würden. Irgendwann hatte er sich damit abgefunden und die alten Dachböden zu seinem beruflichen Lebensmittelpunkt erkoren. Und jeder gelungene Ausbau, wenn er mal wieder aus einem dunklen Verschlag eine strahlende Wohnung mit herrlichem

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