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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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Blick über die Stadt gemacht hatte, war ein Fest für ihn.
    Manchmal beobachte ich ihn heimlich. Er hat Angewohnheiten und einige wunderliche Neigungen. Zum Beispiel legt er sich zum Einschlafen immer auf die rechte Seite und knickt dabei sein rechtes Ohr ganz um, das heißt, er liegt auf der nach innen geklappten Ohrmuschel. Vermutlich tut er das schon seit Jahren, und deshalb steht das rechte Ohr auch etwas mehr von seinem Kopf ab als das linke. Wenn er liest und ganz in sein Buch versunken ist, schiebt er eine beliebige Buchseite ein paar Millimeter unter die Fingernägel des Mittel- und Ringfingers einer Hand und bewegt dann die Finger ein wenig hin und her. Offenbar bereitet ihm das Gefühl, etwas unter den Nägeln dieser Finger zu spüren, eine gewisse Lust. Jetzt gerade, während ich zu ihm hinüberschiele, macht er es wieder, er fühlt sich unbeobachtet. Kurios finde ich auch seine Angewohnheit, sich genau zwischen Unterlippe und Kinn zu kratzen, um dann für ein paar Sekunden an dem Finger zu riechen, mit dem er sich gekratzt hat. Und immer wenn er sich alleine wähnt – etwa wenn er glaubt, ich sei noch auf dem Balkon der Anna-Thomas-Wohnung und verrichte meine Notdurft oder hole irgendetwas aus der Alexander-Kur-Wohnung -, tanzt er in unserem Wohnzimmer umher. Bemerkt er mich, hält er sofort inne und beginnt verlegen irgendein Gespräch oder stellt eine unwichtige Frage.
    All das stößt mich nicht ab, schafft auch keine Distanz zu ihm. Im Gegenteil, seine Eigenheiten machen ihn liebenswert und oftmals muss ich schmunzeln, wenn ich ihn mal wieder bei irgendetwas ertappt habe.
    Ob er mich auch gelegentlich beobachtet?
    Über seinen Charakter kann ich bislang nur so viel sagen: Ich glaube, in seiner Brust schlägt ein gutes Herz und sein Wesen ist hell. Recht begründen kann ich es nicht. Mich beeindruckt sehr, dass er seine schwer kranken Eltern bis zu ihrem Tod vor fünf Jahren alleine gepflegt hat. Beide waren krebskrank gewesen. Zuerst starb die Mutter, dann sieben Monate später der Vater. Und ich fand es rührend, dass ihm die Tränen kamen, als ich ihm von Maries Beerdigung und meinem Bußgang zu ihrem Grab erzählte. Auch gefällt mir, mit welcher Freude er von seinem Beruf spricht, und wie er seinen einstigen Größenwahn selbst verlacht. Auf meine Frage »Was war dir vor dem Unglück das Wichtigste im Leben?«, antwortete er mir neulich, ohne lange nachzudenken: »Mir war und ist das Wichtigste, so zu leben, dass ich nichts bereuen muss. Und wenn ich es schaffe, niemandem Schaden zuzufügen, ist schon viel erreicht.« Ob es in seiner Vergangenheit etwas gibt, das er bereut, habe ich ihn noch nicht gefragt. Aber ich glaube, grundsätzlich ist er mit sich im Reinen. Keine Schatten der Schwermut oder Melancholie lasten auf ihm. Sicher ist er deshalb auch gelassener und rationaler mit der Katastrophe umgegangen als ich. Obwohl auch er seit dem 17. Juli vergangenen Jahres immer wieder Phasen der Hoffnungslosigkeit durchlebt hatte. Jedoch war es ihm dann stets schnell gelungen, sich wieder zu fangen, nach vorne zu schauen und an eine baldige Erklärung und Veränderung der Umstände zu glauben. Nur während der letzten Wochen vor unserem Zusammentreffen wurde er immer kraft- und willenloser. Er litt unter Wahnvorstellungen und Panikanfällen. Und da er ohnehin bald nichts mehr zu essen gehabt hätte, war ihm der Entschluss nicht schwergefallen, seinem Leben ein Ende zu setzen.
     
    Über Frauen und die Liebe reden wir oft. Einmal war Finn verheiratet gewesen, wenn auch nur kurz. Das liegt aber schon lange zurück. Sein Ja-Wort gab er mit zwanzig, und scheiden ließ er sich mit einundzwanzig. Sechs Jahre später traf er Asha, eine, wie er sagt, »atemberaubend schöne« Halbinderin. Sie wurde seine ganz große Liebe. Aber dreizehn Monate vor der Weltkatastrophe trennten sie sich. Weil die Leidenschaft erloschen war, und sie nicht nur Freunde sein wollten. Er sagt, er habe sich nach der Trennung vollkommen leer gefühlt. Sei weder traurig noch verzweifelt gewesen, nur gleichgültig. Und bis zuletzt war keine Sehnsucht nach einer neuen Liebe in ihm erwacht. Der Gedanke, für immer alleine zu bleiben, ohne Frau, schreckte ihn nicht. Was ich erstaunlich finde, da er ja noch recht jung ist. Wenn ein Fünfzigjähriger so empfindet, kann ich das eventuell verstehen, aber ein Sechsunddreißigjähriger!? Er schlief ab und zu mit einer Frau, um sich abzureagieren, und nach vollzogenem Akt machte er sich rasch

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