Der Tag an dem die Sonne verschwand
essen gab, weil es eine grausige Umgebung war, und weil Finn meinte: »Da, wo einer von uns zu Hause ist, ist auch ein guter Platz für den anderen.« Sein Zuhause war so weit entfernt, niemals hätten wir es erreicht.
Und so machten wir uns auf den überaus mühsamen Weg. Zwar hatte sich Finn ehedem auch mit wintertauglicher Kleidung eingedeckt, dabei aber die Tiefschneeschuhe vergessen. Ein fatales Versäumnis! Denn deshalb war er all die Wochen und Monate außerstande gewesen, seinen Unterschlupf zu verlassen. Nur mit solchen Schuhen ausgerüstet, kann man sich auf das Schneemeer dort draußen wagen; ohne sie würde es einen sofort verschlingen. Also trugen wir sie abwechselnd, und der sie gerade nicht an den Füßen hatte, stapfte hinter dem anderen her, in dessen Spuren, aber sackte dennoch immer wieder sehr tief ein, was unser Fortkommen äußerst schwierig gestaltete. Da wir jedoch exakt der Spur folgten, die ich von meiner Wohnung bis hin zu dem Weiler hinterlassen hatte, ging alles leichter, als wenn wir uns einen ganz neuen Weg hätten bahnen müssen. Der Schnee war eben schon etwas festgetreten. Und wir mussten keine Sorge haben, uns zu verlaufen.
Wie anders doch das Gehen zu zweit war! So viel besser! Wir machten uns gegenseitig Mut und feuerten einander an. Und wir lachten viel. Wie schön Lachen doch ist! Wie stark Lachen macht!
Dann sahen wir die Schemen meiner Stadt vor uns – und sprangen vor Freude in die Luft. Und bauten jubilierend einen Schneemann. Unsere beiden eingeschalteten Taschenlampen wurden seine Augen, für Nase und Mund brachen wir Äste von einem Baum ab, und auf den Kopf setzten wir ihm eine dunkle Wollmütze. Sie gehörte Finn.
Noch lange schaute uns der weiße Mann mit seinen leuchteten Augen nach.
Heute ist der 25. Januar. Und jetzt lebe ich schon seit zwölf Tagen hier in meiner Wohnung mit einem Fremden.
31. EINTRAG
Wir haben uns gut eingerichtet. Der Ofen brennt wieder. Es war seltsam zurückzukommen. Wir kochen regelmäßig, machen Spiele (in der Alexander-Kur-Wohnung haben wir Monopoly, Mensch ärgere Dich nicht und ein Dame -Spiel gefunden), und wir lesen viel – lesen uns sogar manchmal gegenseitig vor. Die Tage verfliegen. Alles ist anders als vorher. Leichter. Aber es ist merkwürdig, so eng mit einem Menschen zusammen zu sein. Über drei Jahre war ich alleine. Über drei Jahre hat außer mir kein Mensch in meiner Wohnung übernachtet.
Wir betasten einander mit großer Vorsicht. Ob Finn ebenso misstrauisch ist wie ich, weiß ich nicht. Ich denke darüber nach, warum ich ihn mag. Weil mir keine andere Wahl bleibt? Weil es die Katastrophe in der Katastrophe wäre, würde ich ein schlechtes Urteil über ihn fällen? Ich spiele durch, was geschehen könnte, sollte er mir zuwider werden: Ich würde ihn nötigen, meine Wohnung, mein Haus zu verlassen; er ginge in ein anderes Gebäude, vielleicht in einen anderen Teil der Stadt, wir hätten keinen Kontakt mehr miteinander. Wir, die beiden letzten Menschen auf der Welt, wären einander feind. Wie absurd!
Die beiden letzten Menschen?
Wir sprechen immer wieder darüber, ob wir wirklich die beiden letzten sind. Wo es zwei gibt, könnte es doch auch drei, vier, fünf oder tausende geben, die ebenfalls auf wundersame Weise das Unglück überstanden haben. Und irgendwo leben. Vielleicht in unserer Nähe, vielleicht aber auch sehr weit entfernt. Und wenn wir gemeinsam darüber spekulieren, oder ich alleine darüber nachdenke, ertappe ich mich immer bei folgender Überlegung: Sollte es wirklich noch andere Überlebende geben, könnte darunter doch auch eine Frau sein. Wäre eine Frau an meiner Seite besser als Finn?
Ja, ich würde gerne mal wieder mit einer Frau schlafen! Aber es ist gut, dass Finn keine Frau ist! Denn Sexualität würde die Situation bestimmt verkomplizieren. Eine Frau an meiner Seite hat bei genauer Überlegung nichts Verlockendes! Unweigerlich müsste ich ständig an Marie denken, und meine Sehnsucht nach ihr würde sicher neu entfacht! Ich hätte das Gefühl, sie zu betrügen, und wäre befangen. Nein, es ist gut, dass Finn keine Frau ist! Interessant finde ich, dass ich allmählich wieder ein sexuelles Bedürfnis verspüre, eben Sehnsucht nach einer Frau habe. Seit Beginn der Katastrophe war an solcherlei Empfindungen überhaupt nicht zu denken gewesen. Onaniert habe ich das letzte Mal am 14. Juli des vergangenen Jahres.
Ich bin stets sehr freundlich zu Finn. Bin ich es aus tiefstem Herzen –
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