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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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und vor der Hütte parkten die beiden Autos, mit denen die sieben Leute angereist waren.
     
    Im Gegensatz zu mir akzeptierte er die neue Wirklichkeit nicht so schnell. Über Wochen suchte er nach Menschen und forschte nach dem Grund der Katastrophe. Was er alles getan hat! Wo er überall war! Auf Flughäfen, in Observatorien, in einer Erdbebenstation, in zivilen und militärischen Forschungseinrichtungen, in U-Bahn-Schächten, Elektrizitätswerken, Universitäten, im Hauptquartier des Geheimdienstes, in einer Abhörstation, sogar in einer Tropfsteinhöhle (hoffend, dort jemanden zu finden) und in einem großen Fernsehsender (um einen Hilferuf zu produzieren und auf Sendung zu bringen, was ihm aber trotz zweitägiger Versuche nicht gelang).
    In einem robusten Geländewagen war er kreuz und quer durchs Land gefahren, solange es noch ging, bis hoch oben an die Küste. Und selbst auf den in Häfen ankernden Schiffen suchte er noch – nach irgendwem, nach irgendwas. Er sah brennende Städte, abgestürzte Flugzeuge, entgleiste Züge, ineinander verkeilte Schiffe, ölspeiende Raffinerien und auf Schlachthöfen tote Tiere. Er durchforstete Zeitungsredaktionen und eine Presseagentur, sah sich in Rathäusern und im Innenministerium einer Landesregierung um.
    Doch all seine Erkundungen erbrachten keinerlei Hinweise. Zwar schienen die Menschen sich am 17. Juli des vergangenen Jahres sehr über den plötzlichen Wetterumschwung gewundert zu haben, waren aber nicht in Panik geraten. Darauf deuteten Notizen, einige Pressemeldungen, E-Mails und so weiter hin. Warum aber war das so gewesen? Eigentlich hätte ein irres Chaos ausbrechen müssen. Schnee im Juli! Frost im Hochsommer! Dunkelheit schon am Nachmittag! Alles aber lief offenbar relativ ruhig und geordnet weiter. Warum nur?
    Irgendwann stellte sich Finn die berechtigte und interessante Frage (die ich mir nicht gestellt hatte), um wie viel Uhr genau das Leben wohl verschwunden war – und kam auf eine schlaue Idee.
    In einem großen Bankhaus machte er die Videoüberwachungsanlage ausfindig und entdeckte, dass sie die Daten der letzten Wochen gespeichert hatte. Er tüftelte so lange herum, bis die Aufzeichnungen des 17. Juli über einen Bildschirm flimmerten.
    Der gesamte Vormittag verlief normal, gegen 13.30 Uhr aber füllte sich die Schalterhalle plötzlich. Bis ungefähr 14.30 ging das so, dann kamen kaum mehr Kunden, und von den Anwesenden verließen nur sehr wenige das Bankgebäude wieder. Alle unterhielten sich eindringlich, so schien es zumindest (es gab ja nur Bilddokumente, keine Tonaufnahmen). Sogar die Angestellten mischten sich unter die Besucher, um mit ihnen zu reden. Der normale Bankbetrieb war unterbrochen. Und dann, Punkt 15.00 Uhr, fielen sämtliche Kameras aus. Endgültig! Das also war vermutlich die große Todesstunde oder Todessekunde – und niemand mehr hatte den bald darauf einsetzenden Schneefall erlebt. Das würde erklären, warum nirgends (in keiner Notiz, Mail, Pressemeldung und so weiter) von Schnee, Frost oder Dunkelheit die Rede war. Finn sichtete später ebenfalls noch die Videoaufzeichnungen eines Flughafens und eines Juweliergeschäftes: mit demselben Ergebnis. Genau um 15.00 Uhr brachen die Überwachungsmitschnitte allesamt plötzlich ab.
    Finn hatte also genau das getan, was ich hätte tun sollen. Über Wochen war er aktiv gewesen. Während dieser Zeit wollte er sich mit seiner Ahnung, der wohl einzige überlebende Mensch zu sein, nicht abfinden – und er wurde beherrscht von einer beinahe hysterischen Neugierde. Er suchte wie besessen nach einer Erklärung für die unfassbaren Vorkommnisse. Jedoch vergeblich. Am Ende war er nicht schlauer als ich. Aber wir hatten beide dieselben Schlüsse gezogen: Alles Lebendige war verschwunden, alles Tote war geblieben. Offensichtlich schien die ganze Erde betroffen zu sein, da weltweit alle Sender schwiegen, soweit wir das mit unseren Geräten feststellen konnten; und auch Finn vermutete, dass hinter all dem ein kosmisches Ereignis unvorstellbaren Ausmaßes stecken müsse.
    Nach etwa vier Wochen resignierte er. Und sein Auto blieb endgültig im Schnee stecken. Mitten auf einer Landstraße, nahe dem Weiler, zu dem auch die Scheune gehörte, in der wir uns dann Monate später begegnen sollten. Er war dort gefangen, so wie ich gefangen war in meiner Stadt, in meiner Wohnung. Mit dem Unterschied allerdings, dass er nicht in seinem Zuhause wohnte, dass er es nicht mehr geschafft hatte, Vorräte

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