Der Tag an dem die Sonne verschwand
Licht … Brustschmerzen … unvorstellbare Angst …
»Verdammt, gib einen Laut von dir!«, befahl die Stimme.
… unvorstellbare Angst …
»Lorenz«, sagte ich leise.
»Lorenz? Ist das dein Name?«
Das Licht kam so nahe an mein Gesicht, so nahe an meine Augen, dass ich fürchtete, davon verbrannt zu werden. Schon meinte ich, Hitze, starke Hitze auf den Wangen zu spüren.
»Ja – mein Name …«
Und plötzlich erlosch das Licht. Der Druck auf meiner Brust verschwand binnen Sekunden, ebenso die Schmerzen. Ich atmete schwer, und meine Blicke irrten durch die schlagartige Schwärze. Ich sah rein gar nichts.
»Steh auf«, hörte ich die Stimme sagen, diesmal in einem weniger befehlenden Ton.
Ich streckte mich ein wenig, bewegte meinen Kopf nach links, nach rechts, hob ihn dann an – und wie von einem Instinkt geführt, ohne zu denken, griff ich nach links, denn dort hatte ich meine Taschenlampe abgelegt, bekam sie tatsächlich zu fassen, schaltete sie ein, schwenkte sie etwas nach oben – und mein Herz erstarrte:
Vor mir stand ein großer Mensch! Ein Mann!
Ein Mensch?
Ich konnte zunächst keinen Ton von mir geben, und meine Hand zitterte so sehr, dass der Lichtstrahl meiner Lampe kreuz und quer über das Gesicht des Wesens schnellte und so seine Mimik unheimlich und äußerst bedrohlich erscheinen ließ – wir befanden uns ja in einem fast stockfinsteren Raum.
Und dann stotterte ich: »Lebst du?«
»Ja«, sagte das Wesen.
»Bist du auch ein Mensch?«
Das Wesen schwieg.
Und ich hatte so große Angst vor der Antwort. Denn je länger es schwieg, desto sicherer wurde ich, dass es »Nein« sagen würde. Mein Gott! Und was wäre dann?
Es stand regungslos mit herabhängenden Armen und blickte in meine Richtung, die Augen weit geöffnet. Große, dunkle Augen, die den Schein meiner unruhigen Taschenlampe so reflektierten, als würden sie selbst flackernd leuchten.
Mit einem langen Seufzer und tiefer Stimme sagte das Wesen dann endlich, sehr langsam artikulierend: »Es gibt keine Menschen mehr. Alle sind verschwunden. Und bis gerade eben glaubte ich, der letzte Mensch auf Erden zu sein. Ja, ich bin ein Mensch! Und ich lebe! Warum auch immer. Mein Name ist Finn.«
Ich schaute das Wesen, nein, ich schaute Finn einige Sekunden stumm an, immer noch zitterte meine Hand, aber dann konnte ich plötzlich nicht länger an mich halten. Die Angst und die Skepsis brachen in sich zusammen – und all die Verzweiflung, die zuvor nie gekannte Einsamkeit, die Hilflosigkeit, das Gefühl der unendlichen Verlorenheit, die ganze Seelenlast der letzten Monate fiel von mir ab. Ich warf die Taschenlampe ins Stroh, sprang auf, umarmte Finn – und er umarmte mich auch. Ich weinte, wie ich noch nie in meinem Leben geweint hatte – und auch er weinte. Und wir hielten uns eng umschlungen.
30. EINTRAG
Es war eingetreten, was ich absolut nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Ich war einem Menschen, einem leibhaftigen Menschen begegnet!
Ich war also nicht der einzige Überlebende dieser unsagbaren Katastrophe!
Wir saßen Stunden um Stunden in der Scheune und erzählten und erzählten. Und wie wir beide es genossen zu sprechen, zu fragen und zu antworten! Immer wieder fassten wir uns dabei an, wohl um sicherzugehen, dass wir uns nicht in einem Traum befanden, dass wir real waren, dass wir tatsächlich einander gefunden hatten.
Finns Geschichte ist ebenso merkwürdig wie meine (ansonsten aber ohne Parallelen zu dem, was mir am 17. Juli des vergangenen Jahres widerfuhr). Und auch bei ihm gibt es keinerlei Anhaltspunkte, warum gerade er das Weltunglück überlebt hat.
Als es geschah, schlief er. Mit Freunden war er am 16. Juli zu einer einsam gelegenen Jagdhütte gefahren, die mitten im Wald stand, auf einem etwa fünfhundert Meter hohen Berg. Die Jungs und Mädels, sieben Leute insgesamt, planten dort eine Sommernachtsparty zu feiern. Tatsächlich wurde dann auch bis in die frühen Morgenstunden des 17. Juli hinein getanzt und getrunken, besser gesagt gesoffen. Finn und sein alter Freund Boris gehörten zu den Ausdauerndsten und beide gingen erst gegen sieben Uhr ins Bett. Da schliefen alle anderen bereits. Finn war extrem betrunken und sehr müde.
Als er schließlich nach zwölf Stunden wieder erwachte, gab es die alte Welt nicht mehr. Es war dunkel, es schneite heftig, das Thermometer zeigte minus acht Grad – und außer Finn befand sich kein Mensch in der Jagdhütte. Nur das Gepäck seiner Freunde stand noch überall herum,
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