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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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Heuboden. Zwei, drei Meter musste ich noch durch hineingewehten Schnee waten, dann stand ich vor einem beachtlichen Haufen Stroh und atmete auf. Hier würde ich geschützt übernachten können. Ich lud mein Gepäck ab, buddelte eine für mich passende Mulde – und ließ mich nieder zum Essen und Schlafen.
    Mitten in der Nacht allerdings fuhr ich auf. Hatte sich der Holzboden unter mir bewegt? Oder war es ein Geräusch gewesen? Passierte irgendetwas? Bebte die Erde? Geträumt hatte ich nicht, da war ich mir ganz sicher.
    Und sofort packte mich eine heftige Unruhe. Nicht weil ich mich vor einer weiteren und vielleicht sogar noch schlimmeren Naturkatastrophe fürchtete, sondern weil ich mein Vorhaben gefährdet sah, Maries Grab zu erreichen. Schon ein erneut einsetzender dichter Schneefall oder gar Nebel hätte eine Fortsetzung meiner Wanderung unmöglich gemacht. So trostlos die Welt da draußen auch war, unter den gegebenen Umständen konnte ich mir nichts Besseres wünschen. Sollten nun aber neue Ereignisse eintreten, vielleicht sogar gänzlich fremdartige, hätte mein Plan wohl nicht mehr die geringste Chance. Mein Gott!
    Aber konnte ich meinen Sinnen überhaupt noch trauen? Nach allem, was passiert war? Vielleicht hatte ich ja nur fantasiert …
    Ich saß still im Stroh, war hochkonzentriert, horchte und lauerte. Aber alles blieb ruhig. Dann stand ich auf, ging an das Giebelloch und spähte nach draußen, auf den Schnee, in die Weite, zu den anderen Gebäuden hinüber. Ich konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Tot lag mir die Welt zu Füßen. Ich atmete die beißend kalte Luft, fror und schlich zurück zu meinem Strohlager.
    Aber genau in dem Moment, als ich mich erneut in meinen Schlafsack gezwängt hatte und die Augen schließen wollte, gab es einen Knall! Grell, laut, durchdringend – und sofort wieder verhallt. Er kam eindeutig von draußen. War es ein Schuss gewesen? Beinahe hatte es so geklungen. Ein Schuss? Absurd! Und ich hatte noch etwas gehört, unmittelbar danach, konnte das Geräusch jedoch überhaupt nicht einordnen.
    Was sollte ich tun? Ich lag da wie gelähmt, glotzte an die Scheunendecke und überlegte. Nein, ich überlegte nicht, sondern die Gedanken überrannten einander, und ich zitterte am ganzen Leib. Seit dem Ende des Lärms vor Monaten hatte ich in aschgrauer Stille gelebt. Und nun ein Schuss – oder was immer es auch gewesen sein mochte.
    Also geht irgendetwas dort draußen vor, dachte ich. Kommt es zu einem neuen Mysterium? Oder ist es der Beginn des definitiven Untergangs? Werde ich je Maries Grab erreichen? Werde ich überhaupt weiterziehen können? Wenn nicht, was passiert hier mit mir? Wie soll ich mich verhalten? Wäre ich doch nur schon ein paar Wochen früher aufgebrochen! Dann hätte ich es geschafft. Ganz sicher! Aber vielleicht gibt es an verschiedenen Orten auch unterschiedliche Phänomene? Nein, das ist doch eher unwahrscheinlich. Zumal ich noch gar nicht weit von der Stadt entfernt bin. Nicht einmal mein letztes Ziel werde ich erreichen, nicht einmal meine letzte Aufgabe erfüllen. Ich will zu Marie! Ich will nicht hier sterben. Ich will nicht irgendwo sterben …
    Obwohl ich nur ein paar nicht zu identifizierende Geräusche wahrgenommen hatte, mehr war ja in den letzten Minuten nicht passiert, sog mich eine machtvolle Verzweiflung in die Tiefe, und ich verlor jegliche Kontrolle über mich selbst. Ich war, nach all dem, was schon hinter mir lag, schlichtweg mit den Nerven am Ende und hatte nur noch wenig Kraft. Laut schluchzend presste ich meinen Kopf in das Stroh, verspürte bald einen starken Schwindel und fiel schließlich in Ohnmacht. Wie lange sie andauerte, weiß ich nicht.
     
    Was ich dann aber empfand, als ich wieder zu mir kam, spottet eigentlich jeder Beschreibung. Für Sekunden, für Minuten, die mir allerdings ewig erschienen, glaubte ich, entweder tot zu sein oder mich im Sterbeprozess zu befinden oder nun endgültig irrsinnig zu werden.
    Ich spürte etwas an meinem Hals. Und einen heftigen Druck auf meiner Brust, der fast in Schmerz überging. Ich lag auf dem Rücken, konnte mich nicht bewegen, und meine Augen stierten in ein gewaltiges Licht.
    Und dann das Unfassbare: Ich hörte eine Stimme!
    Eine männliche Stimme, eine tiefe Stimme.
    »Wer bist du? Was bist du? Woher kommst du? Was willst du?«
    Schweigen … Licht … Brustschmerzen … unvorstellbare Angst …
    »Wer bist du?!«
    Die Stimme wurde lauter.
    »Bist du ein Mensch?«
    Schweigen …

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