Der Tag an dem die Sonne verschwand
Manchmal zuckt er nachts, dann schrecke ich zusammen. Mich wundert, dass er sich während des Schlafens kaum bewegt. Ich habe zumindest noch nichts davon bemerkt. Interessant finde ich an mir zu beobachten, dass mich die eigentlich erotische Nähe zu einem Mann in keiner Weise abstößt, ich aber auch nicht die geringste sexuelle Regung dabei verspüre. Es hätte ja sein können, dass tief in mir verborgen eine homoerotische Neigung schlummert, die jetzt durch Finn zum Ausbruch kommt. Dem ist allerdings nicht so. Da bin ich mir sicher.
Früher hätte ich mir eine so große körperliche Nähe zu einem Mann nicht vorstellen können. Ich habe auch nie Männer kennengelernt, die zu einem anderen Mann in einer ähnlichen Beziehung standen. Zumindest sprach niemand darüber. Auch habe ich nie ein Buch gelesen oder einen Film gesehen, wo eine solche Beziehung geschildert worden wäre.
Ist der Ausnahmezustand, in dem wir leben, Bedingung für einen derartigen Umgang? Oder hat der Ausnahmezustand lediglich die Konventionen aufgeweicht, die Tabugrenzen fallen lassen – und wir tun etwas, was wir auch unter normalen Umständen täten, wenn wir nur mutig genug dazu wären?
Ich grübele wieder zu viel. Ich will die Dinge nehmen, wie sie sind. Ich freue mich sehr. Mein Herz ist nicht mehr alleine.
39. EINTRAG
1. März. Es ist wieder etwas wärmer geworden!
Das Fenster-Thermometer zeigt minus sieben Grad. Um ganz sicherzugehen, dass es wirklich wärmer geworden ist, haben wir zwei weitere Thermometer nach draußen gelegt. Eins auf den Balkon der Anna-Thomas-Wohnung und eins auf den kleinen Dachvorsprung vor meinem Badezimmerfenster. Alle drei Thermometer stehen jetzt auf minus sieben Grad. Den ganzen Morgen schon (jetzt ist es 11.25 Uhr) haben wir über die ansteigende Temperatur gesprochen.
Irgendetwas also ist in Bewegung. Irgendetwas geht vor sich. Das glaube ich jetzt auch. Noch vor gut einer Woche habe ich ja den Temperaturanstieg nicht ernst genommen. Nur: Was passiert dort draußen in der Welt? Finn ist ausgesprochen optimistisch. Er meint, dies seien die ersten Anzeichen einer Normalisierung der Witterungsverhältnisse. Ich bin mir da überhaupt nicht so sicher. Die ansteigende Temperatur könnte schließlich auch der Vorbote einer neuen und womöglich noch schlimmeren Katastrophe sein.
Nehmen wir an, es wird wärmer und immer wärmer, es beginnt zu tauen, vielleicht sogar heftig und dauerhaft zu regnen – nicht auszudenken. Alles wäre überschwemmt! Wir könnten das Haus nicht mehr verlassen, die ganze Stadt könnte irgendwann in den Fluten versinken.
Finn stoppt mich stets, wenn ich zu sehr schwarzmale. Und das ist gut so. Es hat ja überhaupt keinen Sinn. Warum neige ich dazu (eigentlich war das mein ganzes Leben schon so), immer das Schlimmste anzunehmen?
Das ist ein übler Charakterzug. Er räumt der Angst viel zu viel Macht ein. Er hält einen klein. Er beschädigt oder zerstört gar die Gegenwart.
16.00 Uhr. Es ist noch ein Grad wärmer geworden! (Und das im Laufe von nur wenigen Stunden!) Minus sechs Grad jetzt! Das ist fast eine Sensation, stellt man sich vor, dass über Monate das Thermometer konstant auf minus elf Grad stand! Ansonsten aber können wir von hier aus keine weiteren Veränderungen feststellen. Ich bin sehr nervös – und Finn auch. Er meint, wir sollten noch heute ein paar Stunden hinausgehen und herumlaufen, um möglichen Ursachen der Erwärmung eventuell auf die Spur zu kommen, um zu klären, ob sich dort draußen vielleicht doch noch mehr tut.
Wahrscheinlich hat er Recht. Dennoch ich bin mir nicht sicher, ob wir das tun sollen. Die Wohnung bietet immerhin Sicherheit. Andererseits kann ich mir im Moment auch nicht vorstellen, dass wir den Rest des Tages hier sitzen, lesen, reden, spielen. Aber wir sollten uns keinesfalls zu weit vom Haus entfernen!
Finn ist ungeduldig und läuft im Zimmer auf und ab. Er schlägt vor, jetzt sofort loszugehen. Ich bin hin- und hergerissen. Vielleicht begeben wir uns in große Gefahr? Andererseits könnten wir etwas Aufschlussreiches entdecken. Wäre ich jetzt alleine, ich würde die Wohnung sicher nicht verlassen. Oder? Finn meint, das Risiko sei nicht groß. Wir könnten jederzeit sofort zum Haus zurückkehren. Ich muss zugeben, in mir brennt auch die Neugierde. Also gut, ich bin einverstanden! Es ist jetzt 16.10 Uhr. In einer Viertelstunde sind wir startklar.
23.45 Uhr. Ungefähr sieben Stunden waren wir unterwegs. Gerade haben wir etwas
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