Der Tag an dem die Sonne verschwand
wunderschönen Zeitvertreib!
Ganz beiläufig erzählte mir Finn vor drei Tagen, dass er ein Instrument beherrscht. Nun dachte ich im ersten Moment: Gitarre, vielleicht Klavier, Saxophon oder Schlagzeug – all das hätte gut zu ihm gepasst. Aber nein! Er kann fast perfekt Akkordeon spielen!
Als Kind und später als Schüler nahm er fleißig Unterricht. Seine Oma hatte ihm das Instrument geschenkt – und zunächst ließ er sich nur widerwillig darauf ein. Denn zu jener Zeit war ein Akkordeon nicht gerade angesagt, eher schon E-Gitarre, Keyboard oder Bass. Aber bereits nach der vierten Unterrichtsstunde packte ihn die Begeisterung, und dann ging er bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr einmal wöchentlich zu Frau Rosenmund, seiner Akkordeonlehrerin, die einen goldenen Zahn hatte und zwei weiße kleine Pudel. Als er dann aber heftig zu pubertieren begann, war Schluss mit der Harmonika-Glückseligkeit, und das gute Stück verschwand für viele Jahre auf dem Speicher seines Elternhauses. Erst zu Beginn seines »zweiten Lebens«, nach dem Infarkt, erinnerte er sich wieder an den alten Kasten und an die Freude, die dieser ihm früher einmal beschert hatte. Also kramte er ihn unter allerlei anderen aus dem Leben verbannten Gegenständen, die sich im Laufe der Zeit auf dem Dachboden angesammelt hatten, hervor, ließ ihn bei einem Fachmann restaurieren und begann wieder zu spielen. Das Akkordeon wurde sein liebster Zeitvertreib, und noch am Abend vor der Katastrophe voriges Jahr hatte Finn seine Freunde in der angemieteten Jagdhütte prächtig damit unterhalten.
Erst jetzt hat er mir davon erzählt. Ich kann es gar nicht glauben. Wir waren bei unseren Gesprächen einfach nie auf das Thema Hobbys oder dergleichen gekommen.
Also schmiedeten wir vor drei Tagen einen Plan, den wir dann auch gleich ein paar Stunden später in die Tat umsetzten.
Wir verließen die Wohnung und das Haus. Eigentlich hatten wir ja erst einmal hierbleiben und abwarten und uns nicht nach draußen begeben wollen. Nun aber gab es einen sehr triftigen Grund, dies doch zu tun! Unser Ziel war das Musikhaus Eppstein, nur wenige Straßenzüge von hier entfernt. Der Laden besteht aus zwei großen Verkaufsflächen, eine im Parterre und eine im Kellergeschoss. Was wir suchten, fanden wir schließlich im (Gott sei Dank nicht so kalten) Kellergeschoss: ein großes, schönes Akkordeon. Finn meint, in der oberen Etage hätte der Frost dem Instrument eventuell zusetzen können. Unten aber lag es geschützt. Zudem war es verpackt in einem Styropor-Karton.
Jetzt hat das Prachtstück ein neues Zuhause gefunden. Hier in unserer Wohnung. Und seit drei Tagen singen wir beide uns die Kehlen wund. Das macht Spaß! Alles um uns herum vergessen wir dabei! Und die Glückshormone sprudeln geradezu durch unsere Gehirne!
Vorwiegend sind es Wander- und Seemannslieder, die wir schmettern. Und Finn begleitet uns dazu auf dem Akkordeon:
»… wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt, dem will er seine Wunder weisen, in Berg und Wald und Strom und Feld …«
»… ich bin ein Mädchen aus Piräus und liebe den Hafen, die Schiffe und das Meer …«
»… wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen … Bergvagabunden sind wir, ja wir …«
Und immer wieder:
»… ein Wind weht von Süd und zieht mich hinaus auf See. Mein Kind, sei nicht traurig, tut auch der Abschied weh … Auf Matrosen, ohé! … La Paloma, ade!«
Finn beherrscht das Instrument fantastisch, finde ich.
Aber bei allem Spaß, bei allem Glück, während wir so hier sitzen und singen, überkommt mich doch immer wieder ein tiefernstes Gefühl: Für Sekunden wähne ich mich dann in einem absurden Traum, alles erscheint mir unwahr und äußerst bizarr. Und es ist ja auch bizarr! Draußen liegt die Welt in Dunkelheit und Kälte, vielleicht sind wir die letzten Menschen auf diesem Planeten, vielleicht bricht auch unser Lebensraum hier bald zusammen, womöglich stehen wir kurz vor unserem Tod – und trotz allem singen und lachen wir, und suchen uns Lieder der Sehnsucht und der Lebensfreude heraus.
Das Gefühl hält nie lange an. Darüber bin ich froh. Ich glaube, Finn spürt es, wenn ich so denke, so empfinde. Er lacht mich dann an, haut mir freundschaftlich auf die Schulter und sagt: »Komm, wir singen noch’ne Strophe!« Und sofort bin ich wieder im Hier und Jetzt und ganz bei ihm.
Ob ihn manchmal auch solche Gefühle beherrschen, weiß ich nicht. Ich möchte ihn nicht danach
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