Der Tag an dem die Sonne verschwand
gegessen – und nun sitze ich hier und schreibe, während Finn auf dem Sofa liegt und sich die Zimmerdecke anschaut.
Wir sind in einer sehr zwiespältigen Stimmung.
Wir haben Merkwürdiges entdeckt, aus dem wir nicht schlau werden. Draußen herrschen unterschiedliche Temperaturen! Durch Zufall sind wir darauf gestoßen.
Für meine Wanderung zu Maries Grab vor zwei Monaten hatte ich mir ein kleines Reise-Thermometer eingesteckt. Und genau das fand ich vorhin, als wir gerade losstapfen wollten, in meiner Anoraktasche wieder. So kamen wir auf die Idee, unterwegs die Temperatur zu messen.
Das erste Mal legten wir das Thermometer etwa vierhundert Meter von hier entfernt auf eine Mauer. Warteten dann eine Weile, da es ja von meiner Körperwärme noch ganz aufgeheizt war, und staunten nicht schlecht, als wir es uns anschließend anschauten: minus neun Grad zeigte es an! Es war also dort, gar nicht weit entfernt von meiner Wohnung, drei Grad kälter! Zunächst glaubten wir, dass mit dem Thermometer irgendetwas nicht stimmte, wir hatten es ja vorher nicht mit den anderen verglichen. Also gingen wir etwa fünfhundert Meter weiter, blieben an einer Straßenkreuzung stehen und legten das Thermometer erneut ab. Diesmal auf einer Fensterbank. Warteten wieder. Sogar noch etwas länger als beim ersten Mal. Inspizierten währenddessen ein wenig die dortige Umgebung, allerdings ohne irgendetwas Besonderes zu entdecken.
Finn war es, der dann zuerst auf das Thermometer schaute. »Das glaube ich nicht«, sagte er und zog mich mit einem heftigen Griff zu sich hin: Die Quecksilbersäule war auf minus fünf Grad angestiegen!
Wir packten das Ding sofort wieder, um rasch weiterzugehen, bogen nach rechts ab und kämpften uns durch eine enge verschlungene Gasse. Wie eine Schlucht wirkte sie. Mir war überhaupt nicht wohl. Ich hatte das Gefühl, die lückenlosen schwarzen Häuserwände rechts und links seien kurz davor, zu kippen, sich auf uns niederzusenken. Für Sekunden glaubte ich sogar, sie rückten näher an uns heran. Nur das Weiß der tief verschneiten Straße, auf der wir uns fortbewegten, hatte noch etwas Beruhigendes und Vertrautes. Ich ging, so schnell ich konnte. Finn hinter mir. Wir schwiegen. Und immer wieder drehte ich mich um. Ich wollte mich vergewissern, ob Finn mir auch wirklich noch folgte. Als wir endlich das andere Ende der engen Gasse erreicht hatten, atmeten wir auf. Auch Finn war schauerlich zumute gewesen. Wir beschlossen auf jeden Fall einen anderen Rückweg zu nehmen. Dann legten wir das Thermometer nochmals aus, auf den Ast eines Baumes. Nach ungefähr zehn Minuten trauten wir unseren Augen nicht: Dort war es viel kälter! Exakt minus zwölf Grad!
Wie elektrisiert suchten wir noch mehrere Stellen in der Umgebung aus, um die Temperatur zu messen. Ich glaube, es waren insgesamt zehn verschiedene Punkte. Die Temperaturen schwankten zwischen minus vier und minus zwölf Grad.
Wie ist das zu erklären? Und warum gibt es gerade jetzt diese Schwankungen?
Aber vielleicht war es ja die ganzen letzten acht Monate so. Und wir haben es nur nicht bemerkt. Keiner von uns beiden hatte je in der Umgebung seiner Behausung Messungen durchgeführt. An meinem Fenster allerdings war die Temperatur von Anbeginn der Katastrophe bis eben zum 23. Februar konstant geblieben, ohne nennenswerte Schwankung. Glaube ich zumindest, denn irgendwann hatte ich ja mit der täglichen Kontrolle aufgehört. Finn jedoch ist sich ganz sicher, dass es während seines Aufenthaltes auf dem Weiler immer gleich kalt war. Zumindest in der unmittelbaren Nähe des von ihm hauptsächlich bewohnten Hauses. Er hatte jeden Tag ohne Ausnahme zwei Thermometer kontrolliert. Eins hing am Küchenfenster, das andere am Scheunentor des Hofes.
Im Übrigen haben wir unser kleines Reise-Thermometer, direkt nach unserer Rückkehr vorhin, auf den Balkon der Anna-Thomas-Wohnung gelegt. Resultat: minus sechs Grad. Es stimmt also mit meinen anderen Thermometern hier überein.
Aber noch etwas ist uns draußen aufgefallen, auf das wir uns keinen Reim machen können: Es gibt ganz leichte Bodenwinde. Fast überall. Auf Kopfhöhe kann man sie nicht bemerken, dort ist es nach wie vor absolut windstill. Wir haben sie zunächst auch nur gesehen , denn die Schneeoberfläche schien sich an manchen Stellen ein wenig zu bewegen. Als wir dann die Handschuhe auszogen und unsere entblößten Hände ganz nahe über den Schnee hielten, konnten wir den leichten Luftzug spüren. Das ist
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