Der Tag an dem die Sonne verschwand
Wohnzimmer, die Tür zwischen beiden Zimmern bleibt stets geöffnet. Vorgestern nun ereignete sich Folgendes: Es war schon ziemlich spät geworden, da wir uns lange gegenseitig vorgelesen hatten. Ich glaube, so gegen Mitternacht lagen wir dann endlich in unseren Betten. Normalerweise schlafen wir rasch ein und wechseln kaum mehr ein Wort, nachdem einer von uns die Kerzen ausgeblasen hat. Ein »Gute Nacht« noch und dann ist Ruhe.
Vorgestern jedoch war alles anders. Jeder hatte es sich in seinem Bett bereits gemütlich gemacht, aber unsere Unterhaltung fand kein Ende. Wir sprachen hinein in das pechschwarze Nichts vor unseren Augen – und spitzten die Ohren, damit die Worte des anderen zu uns finden konnten.
Finn erzählte von seiner Kindheit, ich von meiner:
Wie schön, spannend und aufregend die Weihnachtsfeste waren – und erst die Geburtstage.
Wie er und sein bester Freund den Klassenlehrer in einen Keller sperrten, die Tür verbarrikadierten – und der arme Mann dann einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang gesucht wurde.
Wie ich als Zehnjähriger unserer Nachbarin Frau Hölzer, die eine gemeine Zicke war, vor vielen Leuten im Supermarkt die Perücke vom Kopf riss, um das blonde Prachtstück dann in ein Bassin mit lebenden Karpfen zu werfen; übrigens wäre ein Karpfen dabei vor Schreck fast aus dem Wasser gesprungen.
Wie Finn zu jedem Muttertag für seine Mama auf einer schönen Wiese vor der Stadt einen großen Strauß Wildblumen pflückte.
Wie ich am Totenbett meines Opas saß und ihm sein Gebiss in den Mund schieben wollte, weil ich dachte, wenn er seine Zähne hat, dann kann er sprechen und wird auch wieder lebendig.
Wie Finn mit zwölf zum ersten Mal in seinem Leben einem Mädchen einen Zungenkuss gab.
Wie ich als ganz kleines Kind immer dachte: Wenn ich die Augen zumache, dann sieht mich keiner mehr.
Wie Finn als Junge davon träumte, später mal zur See zu fahren und auf Hawaii zu heiraten; es musste Hawaii sein, weil die Mädchen dort so schöne Röcke aus Blüten trugen.
Wie ich mir in die Hosen machte, weil Mama und Papa sich so heftig stritten, dass ich dachte, einer bringt gleich den anderen um.
Wie Finn mit vierzehn sein erstes und bislang letztes Gedicht schrieb, es dann Sonja schenkte, der aus der Neunten, und Sonja es schon einen Tag später allen anderen zeigte, auch den Jungs, und die lachten sich alle schlapp.
Und so weiter. Wir redeten und redeten. Irgendwann aber verstummten unsere Erzählungen. Da war es schon sehr spät. Wir schwiegen. Keiner jedoch sagte das tagesabschließende »Gute Nacht«. Ich sagte es nicht, weil ich die Stimmung als so heimelig und schön empfand, ich wollte das Ende unserer Unterhaltung noch ein wenig hinauszögern, auf keinen Fall den Schlusspunkt setzen. Wie lange hatte ich nicht mehr mit einem Menschen so gesprochen! Ich lag mit geöffneten Augen, obwohl ich sie auch hätte schließen können. Die Dunkelheit war so oder so dieselbe. Es vergingen ein paar Minuten. Und ich rätselte, ob Finn seine Augen wohl auch geöffnet hielt. Ich hörte seinen Atem. Und dann fragte er plötzlich mit zurückgenommener Stimme: »Schläfst du schon?« »Nein!«, antwortete ich im Flüsterton. Wirklich sehr leise. Ich hatte vermutlich Angst, dass ein zu laut gesprochenes Wort die wohlige Vertrautheit, die in der Dunkelheit zwischen uns entstanden war, verschrecken könnte.
»Ich auch nicht«, flüsterte Finn zurück, machte eine kurze Pause – und sagte dann: »Ich fänd es schön, wenn wir zusammen einschlafen würden. Darf ich zu dir kommen?«
Meine Herzfrequenz verdoppelte sich schlagartig. Wie meinte er das? Und wenn ich ehrlich war: Hatte ich während unseres Gespräches nicht auch einmal ganz kurz dasselbe Bedürfnis gehabt? Aber mit einem Mann in einem Bett schlafen? In meinem? Womöglich noch unter meiner Bettdecke? Groß genug wäre sie ja. Treibt ihn seine neu erwachte Sexualität? Immerhin hatte er schon sehr oft Sex mit Männern, wenn auch wider Willen, wie er sagt, damals als Stricher. Er ist heterosexuell, und ich bin heterosexuell. Also schläft man nicht so eng nebeneinander in einem Bett, wenn zwei Betten zur Verfügung stehen! Aber er ist mein Freund. Mein guter Freund. Und ich fühle mich ihm so nahe. Während der letzten Wochen ist er mir jeden Tag ein wenig mehr ans Herz gewachsen. Wäre es da nicht sogar schön, ihn hier bei mir zu spüren? Aber muss man einen guten Freund »spüren«? Wir waren beide so lange alleine. Wir haben beide in
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