Der Tag an dem die Sonne verschwand
den letzten Monaten so viel Angst erlitten. Vielleicht erwächst daraus die Sehnsucht nach körperlicher Nähe? Und wir haben ja nur uns. Aber wenn er mit mir schlafen will, Sex haben will? Nein! Das kann ich nicht! Niemals! Obwohl ich seinen Körper mag und ihn nicht im Geringsten abstoßend finde. Aber er ist keine Frau. Er riecht nicht wie eine Frau. Er hat nicht die Magie einer Frau. Allerdings er ist mein Freund, mein guter Freund. Der beste, den ich je hatte …
So rasten die Gedanken durch meinen Kopf.
»Lorenz?«, hörte ich ihn wieder flüstern.
»Ja!«, sagte ich, hielt kurz inne und hob meinen Kopf etwas an, um dann entschlossen in seine Richtung zu flüstern: »Komm schnell rüber, es ist kalt!«
Mit ein paar Sätzen war er bei mir. In meinem Bett. Und tatsächlich unter meiner Decke. Er legte sich auf den Rücken. Ich drehte mich zu ihm herum und spürte seine nackten Beine an meinen nackten Beinen. So viele Haare begegneten sich da! Meine Freundinnen hatten ihre Beine immer glatt rasiert.
»Hast du genug Platz?«, fragte ich etwas verlegen.
»Ja, und es ist schön warm.«
In diesem Moment brachen meine Hemmungen zusammen. Ich legte meinen Arm auf seine Brust. Er legte seine Hand auf meinen Arm – und beinahe gleichzeitig sagten wir: »Schlaf gut! Gute Nacht!«
So war es vorgestern Nacht.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich seltsam, und auch Finn verhielt sich anders als sonst, eher zurückhaltend und unsicher. Dennoch versuchten wir uns nichts anmerken zu lassen. Wir taten so, als wäre es völlig normal, gemeinsam und aneinandergeschmiegt im selben Bett wach geworden zu sein. Ein Außenstehender hätte sicher über uns geschmunzelt. Denn wir glichen zwei Jugendlichen, die krampfhaft darum bemüht waren, ihre Verlegenheit zu verbergen. Erst am Frühstückstisch stellte Finn die erlösende Frage: »War es für dich okay, heute Nacht? Ich hoffe, du hast dich nicht bedrängt gefühlt!« »Nein! Überhaupt nicht«, sagte ich schnell, »es war gut, es war schön. Ich hatte anfangs nur Angst, du würdest mehr wollen…«
»Sex?«
»Ja, kurz hatte ich den Gedanken.«
»Nein, danach steht mir nun wirklich nicht der Sinn. Ich möchte nie wieder Sex mit einem Mann haben. Die Erinnerungen daran sind alle schlimm. Ich wollte nur bei dir sein. Wir sind so gute Freunde geworden.«
Ein Glücksschauder durchlief mich. Er empfand also genau wie ich.
Ich sagte nichts, und mein Blick wanderte hin zum Fenster, zur Dunkelheit dort draußen, und ich erinnerte mich an die hinter mir liegenden Monate, an den Lärm, den Nebel, die Einsamkeit, an meine Verzweiflung, meine Angst vor dem Irrsinn, an meinen Entschluss zu sterben – und konnte es nicht glauben, dass ich in diesem Moment, obgleich die Außenwelt immer noch die Hölle war, Glück empfand, tiefes, reines Glück! Nach so vielen Jahren der Trauer, nach so vielen Jahren der Bitternis und Hoffnungslosigkeit war etwas Licht in mein Leben zurückgekehrt. Und das jetzt, da ich in tiefer Finsternis lebte und nicht wusste, ob die Sonne je zurückkommen würde. Wie merkwürdig! Und wie wunderbar zugleich! Mit allem hätte ich nach dem 17. Juli gerechnet, nie und nimmer jedoch mit den jetzigen Geschehnissen! Auf welch verschlungenen Wegen einen das Schicksal doch führt! Marie würde milde lächeln, dachte ich. Sie würde mir das Glück gönnen, davon war ich überzeugt.
»Glaubst du mir nicht?«, fragte Finn, sichtlich irritiert über mein langes Schweigen.
»Doch, hundertprozentig! Du schwule Socke!«, sagte ich mit einem Lachen in der Stimme. »Ab jetzt schlafen wir immer zusammen! Weil es gut ist! Einverstanden?!«
»Einverstanden!«
Somit war alles geklärt.
Und jetzt habe ich schon zwei Nächte Haut an Haut mit einem Mann verbracht. Obwohl dies noch alles andere als normal für mich ist. Ich beäuge uns sehr genau: sein Verhalten, mein Verhalten. Ihn zu streicheln ist seltsam – und dabei auch noch seine Brusthaare zu fühlen. Sein leichtes Schnarchen so direkt neben meinem Ohr wahrzunehmen ist seltsam. Ihn zu riechen ist seltsam. Offen gestanden wusste ich überhaupt nicht, wie ein Mann riecht. Ich empfinde seinen Geruch als etwas Neutrales, vergleichbar etwa mit Papiergeruch. Er löst weder positive noch negative Regungen in mir aus. Auch ist es merkwürdig für mich, eine große starke Männerhand auf meiner Haut zu spüren – oder seinen Atem einzuatmen. Obwohl ich ihn so mag, ist er mir doch in dieser intimen Situation noch sehr fremd.
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