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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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werde. Das Mädchen spürte davon allerdings bloß Magenschmerzen, und so knabberte es Croutons, lutschte an den Ketchuptüten und stopfte sich die Taschen voll mit Senfbeutelchen für die Schwester, von der es wusste, dass sie ebenso hungrig war, aber nicht annähernd so leise durchs Haus schleichen konnte.
    Sojasoße. Essstäbchen. Papierservietten. Feuchttücher. Die Mutter durchwühlte Schublade um Schublade und zerrte das kleine Mädchen hinter sich her.
    «Mommy. Bitte, Mommy.»
    «Aha!»
    «Mommy!»
    «Die Scheißkerle werden ihr blaues Wunder erleben!» Sie hielt ein Streichholzheftchen in der Hand. Silbern und mit frischer schwarzer Reibfläche.
    «Mommy!», jammerte das Mädchen verzweifelt. «Die Haustür. Gehen wir nach draußen. In den Wald. Wir sind schnell, wir können es schaffen.»
    «Nein!», erklärte seine Mutter entschieden. «Genau damit rechnen sie ja. Es sind bestimmt drei, sechs, ein Dutzend Männer, die draußen auf uns warten. So machen wir’s. Wir stecken die Vorhänge in Brand. Wenn die Wand in Flammen aufgeht, nehmen sie Reißaus, die feigen Schweine.»
    «Christine!», schimpfte die Kleine und versuchte es mit einer anderen Taktik. Sie stellte die Füße auseinander und richtete sich zur vollen Größe ihres sechsjährigen Körpers auf. «Christine! Hör auf! Mit Streichhölzern spielt man nicht!»
    Für einen Moment schien es, als zeigten ihre Worte Wirkung. Die Mutter zwinkerte mit den Augen, deren grelles Stechen ein wenig stumpfer wurde. Sie starrte ihre Tochter an und ließ den rechten Arm zur Seite herabfallen.
    «Die Heizung ist ausgegangen», erklärte die Kleine beherzt. «Ich kümmere mich darum. Geh du wieder ins Bett. Es ist alles in Ordnung. Geh ins Bett.»
    Ihre Mutter starrte immer noch auf sie herab. Sie wirkte verwirrt, was besser war als verrückt. Die Kleine hielt die Luft an, hob das Kinn und warf sich in die Brust.
    Von denen wusste sie nichts. Aber sie und ihre ältere Schwester hatten sich vorbereitet und strategisch geplant, wie sie sich selber schützen konnten. Manchmal ließen sie ihre Mutter gewähren. Aber es gab auch Zeiten, in denen es unumgänglich war, die Kontrolle zu übernehmen. Ehe die Mutter allzu weit ging. Ehe sie tatsächlich genötigt wären, um ihr Leben zu rennen, weil ihre Mutter im Widerstreit mit den Stimmen in ihrem Kopf das Unaussprechliche getan hätte.
    Vor Jahren hatte die Kleine unter Albträumen gelitten. Sie hatte ein Baby schreien hören, unerträglich laut und quälend. Ihre Mutter, ruhiger damals, weicher und runder, war dann zu ihr gekommen, um sie zu trösten. Sie hatte dem kleinen Mädchen übers Haar gestrichen und mit ihrer traurigen, schönen Stimme von grünen Wiesen und sonnigen Himmeln und fernen Orten gesungen, an denen kleine Mädchen in großen, weichen Betten und mit vollen Bäuchen ruhig schliefen.
    In solchen Momenten hatte das kleine Mädchen seine Mutter geliebt. Manchmal wünschte es sich, wie damals von Albträumen geplagt zu werden, nur um die Mutter wieder singen zu hören, um die sanften Fingerspitzen über seine Wangen streichen zu spüren.
    Doch das kleine Mädchen und die ältere Schwester hatten keine Albträume mehr. Sie durchlebten sie stattdessen.
    Der Junge aus den Wäldern. Vielleicht, wenn es sich von der Mutter losrisse und schnell genug liefe …
    Die Kleine straffte die Schultern. Sie glaubte nicht wirklich daran, dass ein Junge sie retten könnte. So etwas hatte es noch nie gegeben. Und es würde auch nie geschehen.
    «Christine, geh ins Bett», befahl das kleine Mädchen.
    Die Mutter rührte sich nicht vom Fleck. Sie gab den Arm des kleinen Mädchens zwar frei, behielt aber das Streichholzheftchen in der Hand. «Tut mir leid, Abby», sagte sie.
    Mit sanfter Stimme wiederholte das kleine Mädchen: «Geh ins Bett. Keine Sorge. Ich helfe dir.»
    «Zu spät.» Die Mutter blieb unbewegt. Ihre Stimme war ruhig, traurig. «Du weißt nicht, was ich getan habe.»
    «Mommy …»
    «Ich musste es tun. Irgendwann wirst du es verstehen, mein Kind. Mir blieb keine andere Wahl.»
    «Mommy …»
    Das kleine Mädchen streckte eine Hand aus. Aber es war zu spät. Die Mutter hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Sie sprang auf die gelben Gardinen zu. Das Streichholzheftchen flappte auf. Das erste Streichholz löste sich aus seinem Pappgefängnis.
    «Nein, nein, nein!» Das kleine Mädchen zerrte am übergroßen Mantel der Mutter und versuchte, sie zurückzuhalten. Sie wirbelten durch das Mondlicht und durch

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