Der Tag, an dem du stirbst
Schwein sein. Und doch, als er mich von hinten angegriffen und mir die Hände um den Hals gelegt hatte …
Mir war, als hätte ich nichts anderes verdient. Weil ich schlecht war, musste ich bestraft werden. Eine solche Reaktion ist allen misshandelten Kindern eingeimpft. Wir werden erwachsen, doch von dieser Konditionierung kann man sich kaum befreien.
«Sich für andere aufzuopfern ist vergleichsweise einfach», murmelte J.T., und mir schien, als hätte er meine Gedanken gelesen. «Viel schwerer ist es, für sich selbst zu leben. Aber daran führt kein Weg vorbei, Charlie. Geben Sie sich selbst die Ehre. Verteidigen Sie sich. Kämpfen Sie für sich.»
Ich nickte und drückte Tulip enger an mich, damit sie es warm hatte.
«Schießen wir jetzt eine Runde?», fragte ich.
«Gleich.»
Er öffnete meine Tasche und zog die Taurus hervor. Auf seiner großen, schwieligen Handfläche wirkte die 22er geradezu winzig; die langen Finger eigneten sich viel eher für seine schwere 45er als für meine Spielzeugpistole. Er roch an der Mündung und schaute mich an.
«Sie sollen eine Waffe doch immer putzen, nach jedem Gebrauch.»
«Dazu bleibt noch Zeit nach unserer Schießübung.»
«Immer.»
«Okay.»
«Wollen Sie darüber reden?»
«Nein.»
«Gut, denn ich will es auch gar nicht wissen.»
Er reichte mir die Taurus. Wir standen beide auf.
«Was ist mit ihr?» Er zeigte auf Tulip. «Sie friert.»
«Wir müssen sie in Bewegung halten. Vielleicht sollte ich ihr später einen Mantel besorgen.»
«Tun Sie das. Ein Hund, für den es sich zu kämpfen lohnt, hat einen Mantel verdient.»
J.T. ging los. Tulip und ich hielten Schritt. Bis zu seinem Haus waren es anderthalb Meilen. Es lag abseits auf einem Grundstück von fast zwei Hektar Größe. Perfekt für einen Mann, der einen Schießplatz brauchte und – wie seine Frau – auf Gesellschaft nicht viel Wert legte.
«Lebt sie noch?», fragte er.
Genauer brauchte er nicht zu werden, ich wusste auch so, wen er meinte. «Nein», hörte ich mich antworten: auch das eine seltene Auskunft, zumal ich mein Gedächtnis, was dieses Kapitel anging, ausgeschaltet hatte. Aber wenn ich es recht bedachte … ja, meine Mutter war höchstwahrscheinlich tot. Denn wenn sie noch lebte, hätte sie bestimmt längst Kontakt mit mir aufzunehmen versucht. Mir einen Brief aus dem Gefängnis oder irgendeiner Heilanstalt geschrieben. Oder bei mir angeklopft, wenn sie frei herumlief. Das ist das Problem mit Patienten, die unter einem Münchhausen-Syndrom leiden: Sie betrachten sich als Opfer. So auch meine Mutter. Sie glaubte, einen Anspruch auf Mitgefühl, Unterstützung und Verständnis zu haben. Ich hatte jedenfalls, nachdem ich im Krankenhaus aufgewacht war, nie mehr etwas von ihr gehört. Weder mündlich noch schriftlich.
Es hatte eine letzte Konfrontation gegeben. Ich war am Leben geblieben, meine Mutter …
«Hat sie getrunken?», fragte J.T.
«Nein.»
«Drogen genommen?»
«Sie war einfach nur verrückt.»
«Dann ist es gut, dass sie nicht mehr lebt», meinte er. «Ziehen Sie einen Schlussstrich.»
«Klar», versprach ich. «Warum auch nicht?» Ich schaute auf meine Uhr. «Noch achtundfünfzig Stunden», murmelte ich. Wir legten beide einen Schritt zu.
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20. Kapitel
«Quincy.»
«Hier ist Sergeant Detective D.D. Warren von der Bostoner Polizei. Ich rufe an wegen Charlene Grant. Sie haben auf ihren Wunsch hin Ermittlungen durchgeführt. Es ging um zwei Morde, die jeweils am 21. Januar begangen wurden. Könnte sein, dass es demnächst zu einem dritten kommt, und das möchte ich nach Möglichkeit verhindern. Die Mordrate in Boston ist hoch genug.»
«Detective», grüßte der pensionierte FBI-Profiler Pierce Quincy in scharfem Ton. «Ich habe gestern Abend mit meiner Tochter gesprochen und weiß von ihr, dass Sie an dem Fall dran sind. Es scheint, Sie haben einen Plan und wollen versuchen, die Sozialen Medien einzubeziehen.»
«Könnte sich lohnen. Stimmt es, dass Sie beide Tatorte untersucht haben?»
«Ich habe zwei Berichte verfasst, den ersten für Jackie Knowles und den zweiten für Charlene, nach dem Mord an Jackie.»
Daran hatte D.D. nicht gedacht. «Entschuldigung», murmelte sie verlegen und wusste nicht, was sie sagen sollte.
«Solche Analysen sind einfacher, wenn man das Opfer nicht kennt», fuhr Quincy fort. «Deshalb muss ich, was den zweiten Bericht angeht, Vorbehalte anmelden. Er ist wahrscheinlich weniger objektiv als der
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