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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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in zahllosen Trainingsstunden eingeübtes Manöver knickte ich in den Knien ein und machte mich schwer. Mein Angreifer verlor für einen kurzen Moment die Balance. Als er einen Ausgleichsschritt zu setzen versuchte, nutzte ich seine nach vorn bewegte träge Masse und schleuderte ihn über den Kopf.
    Dann machte ich mich über ihn her. Ich trat ihm in die Rippen und drosch auf seinen ungeschützten Kopf ein. Mit Boxen hatte das nichts zu tun. Es war ein Straßenkampf der übelsten Sorte. Ich rang nach Luft, füllte meine brennenden Lungen und ließ die Fäuste fliegen.
    Mein Angreifer hob beide Arme vors Gesicht und wälzte sich durch den Schnee zur Seite weg. Er wollte wohl so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen, doch das konnte ich nicht zulassen, denn er war größer und stärker als ich. Und womöglich würde er ein Messer oder eine Pistole oder einen anderen Trick aus dem Ärmel ziehen. Also musste ich dafür sorgen, dass er am Boden blieb, damit ich ihn unter Kontrolle hatte, damit ich das mieseste Schwein der Stadt sein konnte.
    Ich blieb an ihm dran. Er wich immer wieder aus und schaffte es einmal fast, auf allen vieren zu kriechen, aber für seine Bemühungen erntete er einen so wuchtigen Tritt in die Rippen, dass er sich mehrfach überschlug.
    Er hielt seinen Kopf in Deckung und schützte sein Gesicht, sodass ich an seiner Miene auch nicht ablesen konnte, was er vorhatte. So überraschte er mich, als er blitzschnell seinen linken Arm ausfuhr und mich am Fußgelenk erwischte.
    Ich kippte nach hinten weg und landete unsanft auf der Hüfte. Obwohl mir der Schmerz den Atem verschlug, war ich so geistesgegenwärtig, meinen Fuß aus seiner Hand zu winden. Wir kauerten jetzt beide auf allen vieren im Schnee und krochen untereinander.
    Tulip setzte uns nach. Sie bellte nicht mehr, sondern winselte nur noch. Ich konnte es nicht riskieren, einen Blick auf sie zu werfen, geschweige denn, mich umzusehen. Vielleicht hätte ich um Hilfe rufen sollen, aber es war kurz nach neun am Morgen und die ganze Gegend wie ausgestorben.
    Außerdem brachte ich keinen Laut heraus. Meine Stimmbänder waren wie eingefroren. Das Blut rauschte mir in den Ohren, und ich hörte nur mein eigenes Schnaufen.
    In Horror-Filmen schreit sich das mutige Opfer immer die Seele aus dem Leib. In Wirklichkeit aber sterben wir wahrscheinlich stumm.
    Fast gleichzeitig sprangen wir auf die Beine. Ich hob sofort die Fäuste vors Gesicht und spreizte die Beine, um sicher zu stehen, während sich mein Angreifer vor mir aufbaute.
    Ich starrte in das wettergegerbte Gesicht meines Schießtrainers J.T. Dillon.

    «Das war allenfalls befriedigend», sagte er und ließ die Hände fallen.
    Noch unsicher, was ich von der ganzen Sache halten sollte, zielte ich mit einem rechten Schwinger auf seine Schläfe. Doch J.T. blockte mit dem linken Arm ab und ließ ihn gleich darauf wieder zur Seite sinken.
    «Vielleicht auch nur eine Vier», verbesserte er sich, ebenso heftig keuchend wie ich. «Immerhin leben Sie noch.»
    Langsam richtete ich mich auf. «Soll das eine Lektion gewesen sein?»
    «Sagen wir, es war Ihre Reifeprüfung.» Er befingerte seine Seite, in die ich ihm einen kräftigen Tritt versetzt hatte, und stöhnte leise. «Aber alt, wie ich bin, werde ich demnächst nur noch schriftliche Zeugnisse ausstellen.»
    Ich hatte meine Fäuste immer noch vorm Gesicht. Ich konnte sie nicht senken. Noch nicht. Mein Atem war zu flach. Mein Hals brannte. Er würde in Kürze blau angelaufen sein.
    «Arschloch!», sagte ich.
    Er musterte mich mit kühlem Blick und ließ sich nicht anmerken, was er dachte.
    Ich schlug ein weiteres Mal zu. Als er mich wieder lässig abwehrte, ging ich aufs Ganze und zwang ihn, die Fäuste schwingend, in die Defensive, von einer Wut angestachelt, die ich so noch nicht an mir kannte. Er hatte mir weh getan, und dafür musste ich mich rächen.
    Er hätte mich fast umgebracht.
    Und ich hätte es fast zugelassen.
    Ich tobte und jagte ihn im Kreis. Mein Hals, meine Brust, mein Stolz brannten lichterloh. Trotz meines ganzen Trainings hätte ich mich benahe einem sechzigjährigen Exmarine geschlagen geben müssen.
    Tulip jagte hinter uns her. Sie bellte nicht und winselte auch nicht mehr. Sie hatte mich schon früher boxen sehen und wusste die Situation womöglich besser einzuschätzen als ich selbst. Ich jagte meinen Trainer vor mir her, und er ließ mich gewähren, duckte sich weg, blockte meine Hiebe ab und schlug auch manchmal zurück.

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