Der Tag, an dem du stirbst
einem Leben mit beziehungsweise ohne Scheuklappen. Ich war inzwischen achtundzwanzig Jahre alt und versuchte immer noch zu leugnen.
Ich wollte raus aus der Polizeizentrale. Ich wollte in die Berge zurück, in mein Zuhause. Ich wollte wieder das Haus meiner Tante betreten, mich ihr in die Arme werfen und weinen wie ein Kind.
Es tut mir so leid, so leid. Ich habe sie geliebt und verloren, weil ich an mir gescheitert bin. Es ist so schrecklich schwer, allein durchs Leben zu gehen.
Es klopfte an der Tür. Wir blickten auf. Eine Frau trat ein. Sie trug einen zimtfarbenen Pullover, der ihre üppigen rotbraunen Locken und noch üppigeren Kurven betörend zur Geltung brachte. Ein Cop wie aus dem Fernsehen, dachte ich. Eine, die jeden Fall löste, ihre männlichen Kollegen übertrumpfte und sich mit einem neuen Paar Pumps von Jimmy Choo belohnte.
Ich blickte auf meine fast flache Brust hinab, fuhr mit der Hand über mein braunes Haar, das ich zu einem schlichten Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und fühlte mich plötzlich sehr unsicher.
«Haben Sie’s ihr gezeigt?», fragte die Frau.
«Bin gerade dabei. Kommen Sie rein. Detective O, das ist Charlene Grant. Charlene, Detective O. Sie ist unsere Facebook-Expertin und hat die Seite bestückt.»
Detective O schüttelte mir die Hand. Sie war ungefähr in meinem Alter, was mich überraschte. Aus ihren braunen Augen begegnete mir ein Blick, der so ausdruckslos und offen war wie der von D.D. Warren. Cop-Augen. Wahrscheinlich waren solche Augen Aufnahmebedingung für die Polizeiakademie.
«Netter Hund», sagte sie mit flüchtigem Blick auf Tulip, die sich unter dem Schreibtisch eingerollt hatte.
«Ist nicht meiner», entgegnete ich automatisch.
Sie starrte mich an, dann D.D.
«Meiner auch nicht», sagte D.D.
«Verstehe.» O lehnte sich mit einer Hüfte an die Schreibtischkante. Das Büro war ziemlich klein. Wir drei füllten es aus, und ich fühlte mich eingekeilt von zwei hartgesottenen Bostoner Polizistinnen, die viel besser angezogen waren als ich und schwerere Waffen trugen. Das war wohl kein Zufall, wie ich fand.
«Was halten Sie davon?», fragte die jüngere der beiden mit rauer Stimme und zeigte auf den Bildschirm.
«Wovon?»
Detective O wandte sich wieder hilfesuchend an D.D.
«Wir sind gerade erst reingekommen», erklärte D.D. «Vielleicht sagen Sie ihr, was wir vorhaben. Es ist schließlich Ihre Idee.»
«Na schön», hob Detective O an. «Samstag, am Einundzwanzigsten, jährt sich der Mord an Randi Menke zum zweiten Mal.»
Ich zuckte zusammen, sagte aber nichts.
«Der Mord an Jackie Knowles in Atlanta liegt dann genau ein Jahr zurück. Wir haben uns gedacht, wir richten eine Facebook-Seite ein, um an die beiden zu erinnern, und hoffen auf eine Reaktion, die uns bei unseren Ermittlungen weiterhilft.»
«Wie kommen Sie darauf?»
«Jackie und Randi hatten bestimmt andere Freundinnen und Bekannte, bevor Sie in die Stadt gezogen sind», antwortete D.D. «Kann es sein, dass Ihre Ankunft andere Mädchen ins Abseits gestellt oder zu Rivalitäten geführt hat?»
Ich starrte sie an. «Keine Ahnung. Wir waren acht. Ich glaube nicht, dass mir in dem Alter Rivalitäten dieser Art aufgefallen wären.»
«Und später dann? Sie, Randi und Jackie waren unzertrennlich. Die drei Musketiere. Wie kam das bei den anderen Mädchen an?»
Ich verstand immer noch nicht. «Wir waren anderen gegenüber nie gemein. Jedenfalls nicht absichtlich. Wir haben niemanden gehänselt oder aufgezogen. Wir haben einfach nur … miteinander gespielt und alles andere vergessen.»
«Und wenn andere Mädchen mitspielen wollten?», hakte Detective O nach. «Hätten Sie das zugelassen?» Ihre Stimme klang fast anklagend. Unwillkürlich rückte ich von ihr ab. Vielleicht bluffte sie nur und probierte irgendeine Verhörstrategie an mir aus. Sie tat nämlich so, als wäre ich bereits überführt.
«Sie meinen, in der Schule?», antwortete ich. «An die Zeit erinnere ich mich nur noch vage. Wir haben Seilspringen und Fangen gespielt wie alle anderen Kinder auch.»
«Sprechen wir von den späteren Jahren», schlug Detective Warren vor. «Als die drei Musketiere in die High School kamen, wie sah es dort aus? Waren sie immer noch die Unzertrennlichen, oder gab es andere Freundschaften, andere Hobbys, Sportarten, Schulaktivitäten?»
«Wir waren nicht immer zusammen. Wir hatten unterschiedliche Stundenpläne und nahmen an unterschiedlichen Nachmittagskursen teil. Jackie war im
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