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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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voneinander hatten als zu zweit, allein ganz zu schweigen. Aber dann wurden wir achtzehn und trieben auseinander.»
    «Warum?», fragte D.D. geradeheraus. Sie schien zu ahnen, dass meine Antwort darauf erklärte, warum ich meine Freundinnen nicht vergessen konnte.
    Ich löste den Blick vom Bildschirm, schaute sie an und fing an zu begreifen, was taff zu sein in Wirklichkeit bedeutet. Auch diese Eigenschaft hatte Detective Warren mit meinem Trainer J.T. und seiner Frau Tess gemeinsam.
    Sie betrachteten das Leben ohne Scheuklappen. Sie duckten sich nicht weg, sondern hielten stand, voller Zuversicht, auch schwere Schläge einstecken zu können.
    «Ich habe mich geschämt», antwortete ich leise. «Ich ließ die Freundschaft auseinanderbrechen, weil ich davon überzeugt war, dass mich Jackie und Randi nicht so liebten wie ich sie. Deshalb habe ich ihnen nie von meiner Mutter erzählt. Ich hätte es tun und Randi damit Gelegenheit geben sollen, uns zu sagen, dass sie von ihrem Mann geschlagen wurde. Jackie und ich hätten ihr beistehen können. Aber stattdessen trieben wir voneinander weg. Ich liebte die beiden so sehr, fürchtete aber, dass sie sich von mir abwenden, wenn ich ihnen von meiner Mutter erzählen würde.»
    Detective Warren beugte sich vor und musterte mich. «Was hätten Sie ihnen denn von Ihrer Mutter erzählen können, Charlene?»
    Ich hob meine linke Hand. Die frischen Prellungen zeichneten sich violett auf dem Gewebe zwischen den Fingern ab. Außerdem waren da noch andere Blessuren zu sehen, ein Patchwork aus feinen weißen Narben auf dem Handrücken. Im Sommer, wenn ich gebräunt war, traten sie deutlicher hervor als jetzt im Winter auf der bleichen Haut. D.D. sah sie trotzdem sofort.
    Ich murmelte: «In anderen Familien kommt es wohl eher selten vor, dass die Mutter auf den Händen kleiner Mädchen Flaschen zerschlägt, um sie zur Ambulanz bringen zu können, wo ein niedlicher junger Assistenzarzt die Splitter aus dem Fleisch zieht. Ich glaube, anderer Leute Mütter verbrennen auch nicht die Fingerspitzen ihrer Töchter am Bügeleisen, um sich in der Ambulanz zurückzumelden, wenn der Assistenzarzt wieder Dienst hat.»
    «Wie alt waren Sie?»
    «Noch so jung, dass ich es mir gefallen ließ, aber schon alt genug, um zu wissen, dass ich mich besser hätte wehren sollen.»
    «Wohnten Sie damals schon in New Hampshire?»
    «Nein, im New York State. Als meine Mutter dann gestorben war, machte der Sozialdienst meine Tante ausfindig und bat sie, mich aufzunehmen. Ich zog zu ihr und lernte Jackie und Randi kennen, gleich am ersten Schultag. Wir saßen nebeneinander und schlossen sofort Freundschaft. Wir haben alles gemeinsam gemacht – gespielt, gelernt, gearbeitet, rebelliert. Aber als wir achtzehn wurden, hingen die beiden anderen Träumen nach. Ich ließ sie gehen und verzichtete darauf, Kontakt zu halten oder das zu tun, was von besten Freundinnen zu erwarten gewesen wäre, denn ich wollte sie einfach nicht wissen lassen, wie sehr sie mir fehlten. Ich fand es selbst peinlich, dass ich sie nach vielen Jahren immer noch mehr liebte als sie mich. Und jetzt … jetzt …»
    Die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich saß da und betastete das Foto meiner besten Freundin, die ich nie mehr leibhaftig vor mir sehen würde.
    Ich hätte ihr und auch Jackie alles erzählen sollen. Stattdessen hütete ich die Geheimnisse meiner Kindheit mit dem Ergebnis, dass Jackie und Randi später die Geheimnisse ihrer Erwachsenenzeit hüteten. Randi verschwieg, dass sie einen gewalttätigen Ehemann hatte, und Jackie verheimlichte uns ihre lesbische Neigung. Davon erfuhr ich erst von Pierce Quincy, dem von Jackie angeheuerten Profiler. Ich saß mit steinerner Miene vor ihm, als er es sagte, und wollte mir nicht anmerken lassen, dass ich als beste Freundin von alldem nichts wusste. Eine beste Freundin hätte sich doch anvertraut.
    Die feinen weißen Narben auf meinem Handrücken kümmerten mich am allerwenigsten. Weh taten nur die Wunden im Innern. Meine Welt war immer schon allzu klein gewesen. Anfangs gab es darin nur mich und meine Mutter, dann mich und meine Tante, und dann bestand sie ausschließlich aus Randi Jackie Charlie. Ich hatte immer zu wenig. Ich liebte immer zu sehr. Und ich verlor immer zu viel.
    Das Baby, es weint hinten im Flur.
    Wahrscheinlich gehörte auch dieses Baby zu meiner Welt. Ich hätte es beschützen müssen, tat es aber nicht, und nun konnte ich mich nicht einmal an seinen Namen erinnern. So viel zu

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