Der Tag, an dem du stirbst
gereizter Stimme. «Sie sagten, Sie seien über Google auf meinen Namen gestoßen. Nun, wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie mich nicht gerade freiwillig angesprochen. Genau genommen sind Sie abgehauen. Ich bin Ihnen hinterhergelaufen.»
«Ich hatte auch gar nicht die Absicht, Sie anzusprechen.»
«Aber Sie sagten doch …»
«Ich wollte Sie nur sehen. Das hier …» Ich fuhr mit der Hand im Kreis. «Mit alldem habe ich nicht gerechnet. Sie sind für mich einfach nur eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme. Eigentlich wollte ich Ihnen einen Brief schreiben mit Details zu meinem Fall. Falls ich es am Einundzwanzigsten nicht schaffen sollte, könnten Sie vielleicht den Täter schneller schnappen, damit die Familien von Jackie und Randi endlich zur Ruhe kommen und auch meine Tante nicht im Ungewissen bleiben muss. Ich habe Sie nicht nur meinetwegen ausfindig gemacht, sondern auch in deren Interesse.»
D.D. zog die Brauen zusammen. «Ihre zwei besten Freundinnen sind ermordet worden», sagte sie. «Und Sie glauben, es könnte auch Ihnen an den Kragen gehen.»
«Ja.»
«Deshalb sind Sie fortgezogen, weg von den Leuten, die Sie kennen. Sie verstecken sich in der Großstadt und sind nirgends registriert, nicht einmal mit einem Telefon oder als Stromverbraucher. Sie haben keinen Computer, können also auch im Internet keine Spuren hinterlassen. Ihren Namen aber haben Sie beibehalten.»
Ich hob mein Kinn. «Manches muss eben bleiben.»
«Sie trainieren hart, boxen, laufen, schießen. All das zur Vorbereitung auf den erwarteten Showdown. Trotzdem wollen Sie den Hund weggeben.»
«Ja.»
«Sie haben mich zwar ausfindig gemacht, hatten aber nicht vor, mich vor dem Einundzwanzigsten um Hilfe zu bitten. Obwohl Sie mit einem Fadenkreuz auf dem Rücken herumlaufen, haben Sie nicht einmal Ihre Kollegen von der Notrufzentrale um Hilfe gebeten.»
Ich sagte nichts, blickte ihr aber unverwandt in die stahlblauen Augen.
«Aus Ihnen werde ich nicht schlau, Charlene», sagte sie schließlich. «Wollen Sie den Einundzwanzigsten überleben, oder haben Sie vielmehr vor, an diesem Tag zu sterben?»
«Ich habe nicht vor zu sterben.»
«Aber wollen Sie denn überleben?»
Ich schwieg. D.D. senkte ihren Blick auf meine Hand. Vermutlich las sie aus den Narben die Antwort.
Vor wenigen Stunden hatte Tess zu mir gesagt, dass Kinder zwangsläufig groß würden und sich auch im Erwachsenenalter noch ändern könnten. Aber manches im Leben verändert sich nicht oder nur schwer. Da wäre zum Beispiel dieses kleine Mädchen, das sich nicht gerührt hatte, als ihm die Mutter mit dem Bügeleisen die Fingerkuppen verbrannte, und später boxen lernte. Oder nehmen Sie dasselbe Mädchen, das gehorsam die Splitter einer Glühbirne schluckte und sich später beibringen ließ, wie man eine Pistole abfeuert.
Ich hatte voranzukommen versucht, was mir an manchen Tagen recht gut gelungen war, an anderen Tagen weniger. Aber insgesamt waren es nur dreihundertdreiundsechzig Tage, die ich in diesem Sinne genutzt hatte. Sehr viel mehr Zeit hatte ich in der Opferrolle zugebracht, nämlich als das Kind, das immer tat, was die Mutter von ihm verlangte, denn es stand deren Liebe auf dem Spiel, und das Kind hatte ohnehin schon allzu viel verloren.
«Namen, bitte», sagte Detective Warren und zeigte auf das leere Blatt Papier.
Ich ließ mir Zeit, vor allem deshalb, weil ich trotz zitternder Hände möglichst akkurat und lesbar schreiben wollte. Einer spontanen Eingebung folgend, die ich mir selbst nicht erklären konnte, notierte ich zwei Namen.
Zum Schluss ließ ich noch eine Weile verstreichen, um das Ergebnis meiner Bemühungen zu prüfen.
Danach sammelte ich meinen Hund und meine Pistole ein.
15:00 Uhr. Donnerstagnachmittag. Ich hatte noch dreiundfünfzig Stunden.
Tulip und ich machten uns auf den Weg in die kahle, verschneite Landschaft jenseits der Stadt.
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22. Kapitel
Als Charlene gegangen war, kehrte Detective O in D.D.s Büro zurück, schloss die Tür und ließ sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen.
«Kann es sein, dass wir so viel Glück haben?», fragte sie und schien selbst daran zu zweifeln. «Charlene Grant ist doch die perfekte Besetzung für unseren gesuchten Täter, oder bilde ich mir das nur ein?»
«Ich weiß nicht, ob man das unbedingt als Glück bezeichnen kann», meinte D.D. mürrisch. «Wie gesagt, sie lief mir vor dem zweiten Tatort über den Weg und behauptete, sie wolle, dass ich in ihrem
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