Der Tag, an dem du stirbst
zurückgelassen. Einen Kinderschänder zu töten ist eines; einen Welpen verhungern und verdursten zu lassen, etwas ganz anderes. Charlene hat offenbar ein Herz für Hunde. Würde sie sich nicht auch um einen Welpen gekümmert haben?»
«Vielleicht hat sie darauf spekuliert, dass die Leiche schnell entdeckt wird. Und damit auch der Hund.»
«Möglich», meinte D.D., war aber unschlüssig.
«Sie wurde als Kind misshandelt», erinnerte O. «Das heißt, es dürfte ihr nicht schwerfallen, sich mit den Opfern zu identifizieren.»
«Sie fühlt sich ebenso machtlos», führte D.D. weiter aus. «Beide Freundinnen wurden ermordet, die Polizei tritt auf der Stelle, und sie ist überzeugt davon, als Nächste an der Reihe zu sein. Sie versucht, sich entsprechend vorzubereiten, hat aber letztlich keine Handhabe. Ihr bleibt nichts anderes übrig als abzuwarten.»
«Oder aber Krieg zu führen gegen Päderasten …»
«Genau. Es verleiht ihr ein Gefühl von Macht. Sie übernimmt die Kontrolle und rückt gerade, was ihr schief erscheint. Ich wette, eine Pistole abzufeuern hilft besser gegen Angst als Xanax.»
«Es sei denn, sie hat ihre Freundinnen getötet.»
«Kann sein.»
Detective O musterte D.D. «Aber das glauben Sie wohl eher nicht, oder?»
Sie zuckte mit den Achseln und versuchte, ihre vagen Vorstellungen in Worte zu fassen. «Heute Morgen hat mir ein ehemaliger Profiler erklärt, dass sich aus zwei Morden noch keine eindeutigen Muster ableiten lassen. Wer weiß, ob Charlene Ziel eines geplanten Anschlags ist oder ob am Einundzwanzigsten nicht noch ein weiterer Mord verübt wird. Aber ich glaube, dass sie tatsächlich davon überzeugt ist. Die geschwollenen Knöchel und die Druckstellen am Hals sprechen für sich. Sie trainiert hart und lässt sich schlagen und würgen, um am Einundzwanzigsten entsprechend gewappnet zu sein.»
«Und wenn sie tatsächlich damit rechnet, am Einundzwanzigsten getötet zu werden …»
«Wird sie alle rechtlichen Bedenken in den Wind schlagen.»
«Und sich vorher ausgiebig und stellvertretend für andere junge, unschuldige Opfer rächen.»
D.D. nickte. «Eines ist sicher.»
«Was?»
«Wenn Charlene Grant recht hat, bleiben ihr nur noch zwei Tage. Mit anderen Worten, in den nächsten vierundzwanzig Stunden …»
«Wird ein weiterer Kinderschänder dran glauben müssen.»
«Erledigt mit der 22er, die wir ihr gerade zurückgegeben haben.»
[zur Inhaltsübersicht]
23. Kapitel
16:30 Uhr. Es wurde schon dunkel. Vor dem Fenster trudelten leichte Schneeflocken vom Himmel, und Jesse drehte fast durch.
Stundenlang hatte er seine Mutter bedrängt, in die Stadtbibliothek gehen zu dürfen. Er hatte eigentlich gleich nach der Schule den Bus nehmen wollen, aber seine Mutter hatte nein gesagt. Nicht bei diesem Wetter mit dem Bus. Als würden ein paar Schneeflocken auf den Straßen den ganzen Verkehr zum Erliegen bringen.
Er hatte sie angefleht, gebettelt und vor Frustration geheult. Mit Erfolg. Sie werde um vier, wenn sie ihr Telefonat beendet habe, mit ihm in die Bibliothek fahren, hatte sie versprochen. Wollte sich auch ein bisschen da umschauen. Er hatte behauptet, für die Schule drei Sätze über seine Lieblingsbibliothek schreiben zu müssen. Also wollten sie zusammen die U-Bahn nehmen und später vielleicht im Pru Center was essen gehen.
«Wir gehen fein aus», hatte sie gesagt und dabei gelächelt. Sie schien sich wirklich zu freuen, weshalb sich Jesse wegen der Lüge ziemlich schlecht fühlte. Nun ja, ein wenig gelogen. Er nahm sich fest vor, die drei Sätze zu schreiben, und danach würden sie essen gehen. Aber vorher musste er Pink Poodle treffen und sich von ihr zeigen lassen, wie man einen Ball anschneidet. Unbedingt.
Um fünf vor vier zog er seine dicke Winterjacke an, frische Strümpfe, seine Boots, seine Mütze und Handschuhe. Eine Minute vor vier stand er mit Zombie-Bear im Arm im Flur, ausgehbereit.
Aber seine Mutter telefonierte noch.
Sie redete und redete und redete («Eine Minute noch, Jesse!» – «Psst, still!» – «Unterbrichst du mich noch einmal, junger Mann, ist unser Ausflug gestrichen!»).
Ihm wurde heiß unter den dicken Sachen. Schweiß rann ihm in den Kragen, und er hüpfte von einem Fuß auf den anderen.
Komm endlich, komm, komm!
Irgendwann tauchte sie endlich im Flur auf und sagte: «Jesse? Können wir gehen?» Als hätte sie ihn nie warten lassen.
Jesse mochte die Stadt bei Nacht. Ihm gefiel es, wenn die zahllosen Lichter brannten und
Weitere Kostenlose Bücher