Der Tag, an dem du stirbst
alles ganz anders aussah, besonders jetzt, da aus tiefhängenden Wolken dicke Flocken fielen, die man mit der Zunge auffangen konnte und die ein bisschen nach Rost schmeckten.
Jesses Mutter steuerte mit eiligen Schritten auf die drei Blocks entfernte U-Bahn-Station zu. Jesse sprang um sie herum und mimte ein von Schnee angetriebenes Frostmonster, das mit dem Mund nach Schneeflocken schnappte, bis ihn die Mutter in scharfem Ton aufforderte, endlich Ruhe zu geben.
Er trottete neben ihr her, ein wenig gedämpft, aber immer noch glücklich, denn bald würde er in der Bibliothek sein; die ganze Stadt war hell erleuchtet, es wimmelte von Menschen, und Pink Poodle würde wahrscheinlich schon zwischen den Bücherregalen vor einem Computer sitzen. Was für ein toller Abend!
Der bandagierte Kopf von Zombie-Bear, seinem untoten Baseballstar, lugte aus der Jackentasche.
Es dauerte ewig , bis die Boston Public Library in der Boylston Street endlich erreicht war. Sie bestand aus zwei Gebäuden, dem historischen McKim Building und dem nachträglich hinzugekommenen Johnson Building. Jesse fand das hundertsechzig Jahre alte Gebäude toll, besonders die riesigen Mauerbögen, die tollen Steinmetzarbeiten und die langen, dunklen Hallen, in denen man Gespenster und Spukgestalten vermutete. In diesem Haus aber waren fast ausschließlich langweilige Bücher untergebracht, Regierungsdokumente, historische Arbeiten und so was. Jesse und seine Mom gingen stattdessen auf das Johnson Building zu. Es war in den Siebzigern errichtet worden, was man ihm, wie seine Mom meinte, auch ansehe. Jesse scherte sich nicht um das Äußere; umso cooler fand er, was sich darin befand, nämlich unter anderem eine ganze Abteilung nur für Kinder und sogar ein Raum für Teenager.
Da würde er vielleicht hinmüssen, vielleicht saß Pinky Poo ja dort. Jesse hatte noch gar nicht daran gedacht.
Er befingerte Zombie-Bear und redete sich ein, kein bisschen nervös zu sein. An der Hand seiner Mom stieg er die Stufen hinauf.
In der Eingangshalle legte seine Mutter den Zeitplan fest. Sie würde für die Hausaufgaben ihrer Krankenschwesternausbildung in einigen Büchern nachschlagen müssen und wollte ihm zeigen, wo er sie später finden könne. Er dürfe dann in die Kinderabteilung gehen, die Bücher auswählen, die er sich ansehen wolle, und solle mit denen dann sofort zu ihr zurückkehren. Während sie für ihre Schule arbeitete, solle auch er seinen Mini-Aufsatz schreiben. Danach würden sie essen gehen.
Jesse nickte stumm. Er war nicht das erste Mal mit seiner Mutter in der Bibliothek und kannte den Ablauf.
Er gab ihr einen Kuss und drückte sie, vielleicht ein bisschen fester als sonst. Dann eilte er in die Kinderabteilung auf der ersten Etage.
Jesse fand sich in der Bibliothek gut zurecht. An Regentagen kam er mit seiner Mutter manchmal, um auf «Forschungsreise» zu gehen. Damit meinte sie, dass er sich in den Räumen frei bewegen durfte, ohne fürchten zu müssen, dass die alte Mrs. Flowers mit dem Stock anklopfte und sich über allzu großen Krach beschwerte.
Als er sechs war, hatte ihn seine Mutter das erste Mal allein losziehen lassen. Denn erstens hatte sie dann selbst etwas Freiraum, und zweitens wollte sie Jesse mit ihrer gluckenhaften Fürsorge nicht in Verlegenheit bringen, schließlich waren auch andere Jungs in seinem Alter nicht ständig in Begleitung ihrer Mütter. Anfangs hatte sie vor der Tür der Kinderabteilung auf ihn gewartet, war aber dazu übergegangen, ihn für eine Weile tatsächlich unbeaufsichtigt zu lassen.
In der Kinderabteilung hing ein Hinweisschild mit der Aufschrift «Unbeaufsichtigte Erwachsene haben keinen Zutritt». Mit anderen Worten, nur solche Erwachsene, die in Begleitung eines oder mehrerer Kinder waren, durften die Abteilung betreten. Man wolle die Kleinen so vor Gefahren durch Fremde schützen, hatte ihm seine Mutter erklärt, die ihn deshalb guten Gewissens dort alleinlassen konnte.
Auf die Kinder passte auch immer eine Bibliothekarin auf. Wenn Jesse ein Problem hatte oder sich bedroht fühlte, wusste er, an wen er sich wenden konnte. Aber Probleme gab es eigentlich für ihn nicht. Er liebte die Bibliothek, den großen Raum mit seinen hohen Regalen voller Bücher und all den Leuten, die darin schmökerten und ihn in Ruhe ließen, sodass er sich wirklich einbilden konnte, auf Entdeckungsreisen in der Wildnis des Kongo zu sein, wo jeden Moment ein Riesenaffe in den engen Gängen auf ihn zuspringen, ein
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