Der Tag, an dem du stirbst
Fall ermittle. Kann natürlich sein, dass das nur eine Ausrede war. Vielleicht hat sie mich mit ihrer Geschichte davon abzulenken versucht, was sie in Wirklichkeit in der Nähe des Tatorts zu suchen hatte.»
«Was halten Sie von den Verletzungen an ihren Händen und am Hals? Sieht so aus, als sei sie überfallen worden.»
«Sie trainiert.»
«Dann scheint sie wirklich zu glauben, dass jemand versuchen wird, sie am Einundzwanzigsten umzubringen.»
«Randi Menke und Jackie Knowles sind wirklich tot.»
Detective O schien in Gedanken versunken. Plötzlich gingen ihre Augen weit auf. «Das Motiv! Charlene arbeitet in der Notrufzentrale. Bei ihr melden sich verstörte Kinder. Sie will ihnen helfen, weiß aber nicht, wie. In der Zwischenzeit geht sie zum Boxtraining und lernt schießen …»
«Sie rüstet auf.»
«Und zählt die Tage bis zu ihrem eigenen Tod. Irgendwann wird sie sich fragen: Was habe ich eigentlich noch zu verlieren? »
D.D. musterte ihr Gegenüber. «Charlene beschließt, die Zeit zu nutzen, die ihr noch bleibt. Um Missstände zu beseitigen? Sie ist als Kind selbst misshandelt worden.»
«Jetzt will sie andere Kinder retten», ergänzte O. «Sie will das tun, was sie sich von anderen erhofft hat, als sie klein war und von der geliebten Mommy mit Insulin vollgepumpt wurde.»
«Insulin?»
«Ich dachte gerade an einen anderen Fall, der mir untergekommen ist. Böser Stiefvater. Diabetiker. Er kam auf die Idee, seinen hübschen Stieftöchtern, einem Zwillingspaar, Insulin zu spritzen, eine Dosis, die reichte, um sie vorübergehend außer Gefecht zu setzen. Wenn er sich an ihnen vergangen hatte, spritzte er ihnen aus Sprühflaschen Zuckerguss in den Hals, damit sie wieder aufwachen.»
D.D. starrte sie an. «Ihr Job ist echt beschissen.»
«Nein», entgegnete Detective O ernst. «Beschissen sind die Fälle. Mein Job war es, diesen Stiefvater hinter Gitter zu bringen und dafür zu sorgen, dass er sich nie wieder an kleinen Mädchen vergreift. Das werden Sie doch sicher verstehen.»
«Touché. Zurück zu unserem Fall. Angenommen, wir liegen richtig, was das Motiv angeht. Gelegenheit zur Tat hätte sie gehabt. All das spricht für Charlene als mordende Rächerin.» D.D. faltete das Blatt Papier auseinander, das sie in den Händen hielt, und reichte es Detective O. «Die Handschrift passt leider nicht.»
«Nun ja, die Grundlinie ist nicht wie mit dem Lineal gezogen», räumte O ein und nahm das Blatt entgegen. «Aber Charlene stand unter Beobachtung. Sie ist nicht dumm. Wenn sie diese anonymen Nachrichten verfasst hat, wird sie sich doch hüten, genauso zu schreiben.»
«Sie hat hier in Druckbuchstaben geschrieben und nicht in Schreibschrift wie auf dem Briefchen. Aber sehen Sie, die Buchstaben sind ebenso präzise und sauber ausgeschrieben.» D.D. wandte sich dem Aktenberg zu, der auf ihrem Schreibtisch lag, und schaute unwillkürlich auf die Uhr. Sie hatte noch jede Menge Arbeit vor sich, und schon in wenigen Stunden würden ihre Eltern eintreffen. Schnell hatte sie gefunden, wonach sie suchte, und überflog die Kopien der beiden anonymen Nachrichten.
Irgendwann muss jeder sterben. Sei tapfer.
Sie nahm die Kopien aus dem Ordner und platzierte sie zwischen sich und Detective O auf den blaugrauen Teppichboden. O legte Charlenes Schriftprobe daneben.
«Rosalind Grant. Carter Grant», las Detective O. «Wer mag das sein?»
«Charlene Rosalind Carter Grant», ergänzte D.D. den vollen Namen Charlenes. «Die Mittelnamen trägt sie vielleicht zu Ehren ihrer Mutter und ihres Vaters.»
«Deren Namen wollte sie uns doch nicht nennen.»
«Sie war wohl meinem Charme erlegen.»
«Schauen Sie sich das kleine N an», sagte Detective O plötzlich. «Einmal dort auf der Nachricht in dem Wort ‹Irgendwann›, und dann hier in dem gedruckten Namen ‹Grant›. Sieht ziemlich ähnlich aus, wie ich finde.»
D.D. zuckte mit den Achseln. «Sieht halt aus wie ein kleines N.»
«Der obere Bogen ist in beiden Fällen sehr ordentlich gerundet, und die Senkrechten sind exakt parallel. Schreiben Sie mal ein N. Schaffen Sie das auch?»
Um ihrer Kollegin einen Gefallen zu tun, machte D.D. die Probe aufs Exempel, einmal in Schreibschrift, das zweite Mal in Druckschrift. Das Ergebnis war in beiden Fällen scheußlich und nicht annähernd so elegant wie Charlenes Muster.
« Sie schreiben wie ein Arzt», bemerkte Detective O.
«In meiner Familie ist das ein Kompliment.» Wieder warf D.D. einen verstohlenen Blick
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