Der Tag an dem ich erwachte
Stimme nicht erk annte. Und dann trat ich vor sie. Mit wild klopfendem Herzen. Mit schwitzenden Händen. Sah ihr direkt in die Augen und legte meine ganze Sehnsucht in meine Stimme.
„Ava, ich bin’ s!“ Doch sie sah mich nur kalt an. So kalt, so fremd, dass ich unwillkürlich Schüttelfrost bekam. „Ava, erkennst du mich denn nicht? Sieh mich doch genau an, ich bin’ s!“
„Ich kenne Sie nicht!“, fauchte sie mich an, „was soll das ganze Theater? Was sind Sie, verdammt noch mal, so eine Art verrückte Stalker?“
„Ava. Wieso erkennst du mich nicht?“, rief ich verzweifelt und ging einen Schritt auf sie zu. Ich wollte sie in den Arm nehmen, sie festhalten. Als wäre sie noch ein kleines Mädchen, das ich so oft tröstete und das mich so oft tröstete, wenn wir Angst vor dem Gewitter hatten. Oder vor den Geistern in unseren Gruselgeschichten, die wir uns immer wieder gegenseitig vorlasen.
„Bleiben Sie, wo Sie sind!“, kreischte sie und bewegte sich ängstlich in Richtung Tür. „Machen Sie ja keinen Schritt weiter!“
„Ava, Avie“, stammelte ich hilflos. Und dann fiel es mir wieder ein. Unser Kinderreim. „Heile, heile Segen, drei Tage Regen, drei Tage Schnee, dann tut es nicht mehr weh“, sang ich mit zitternder Stimme. Ava blieb abrupt stehen und starrte mich an, bevor sie sich an der Wand abstützte. Ging zögernd auf mich zu, als sie ihr Gleichgewicht wiederfand. Strich mir meine langen Haare aus dem Gesicht, das sie prüfend musterte.
„Oh mein Gott“, flüsterte sie und hielt sich den Mund zu. Eine vertraute Geste. Alles an ihr war mir vertraut. „Oh mein Gott“, wiederholte sie etwas lauter. „Bist du es wirklich?“
Ich nickte glücklich. Endlich hatte sie mich erkannt, endlich! Jetzt wird alles wieder gut werden! Ihre anmutige Hand mit den langen, sorgfältig lackierten Fingernägeln streichelte hauchzart meine Wangen, ertastete vorsichtig mein Gesicht, ihre weit aufgerissenen Augen hafteten sich an meinem hoffnungsvollen Blick fest. „Du bist es wirklich!“, sagte sie leise. „David.“
Da s Zimmer begann sich zu drehen, während mein Herz stehen zu bleiben schien. Ich spürte, wie der Boden unter meinen Füßen weich wurde und fiel in Ohnmacht.
15. Die Wahrheit
Als mein Vater uns verließ, war ich fünf Jahre alt. Ich erinnere mich kaum noch an ihn. Ich weiß nur noch, dass er ein Deutscher war. Schneider hieß er mit Nachnamen. Doch, nachdem er uns verlassen hatte, hatte meine Mutter wieder ihren Mädchennamen angenommen, Lewis. Er hatte uns nicht nur verlassen. Er war ausgerechnet mit seiner Schwägerin, der einzigen Schwester meiner Mutter, meiner Tante durchgebrannt. Er ging wieder in seine Heimat zurück und nahm meine Tante mit.
Ich liebte Tante Grace mit einer Inbrunst, die nur ganz kleinen Kindern eigen ist. Immer, wenn sie uns besuchte, hing ich ihr förmlich an den Fersen und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Sie hatte lange braune Locken, sanfte graublaue Augen, genau wie meine, trug lange Kleider mit Blumenmuster und roch nach Maiglöckchen. Und sie zauberte den besten Apfelkuchen der Welt. Oh, wie ich Tante Grace’ s Apfelkuchen liebte!
„Komm her, mein Mäuschen!“, hörte ich ihre liebliche Stimme und roch ihren süßen Duft, bevor ich auf meinen kleinen Füßen zu ihr rannte. „Das ist der Teig für den Apfelkuchen“, erklärte sie mir, „du darfst ihn rühren. Aber nicht den Löffel abschlecken, das ist nicht gut für den Magen. Na gut, ein kleines bisschen darfst du, aber nur den Löffel!“ Sie ergriff meine kleine Hand. „So musst du rühren, David! Gut so, mein Schätzchen. Ich lasse deine Hand jetzt los, und dann machst du es alleine. Bravo, Süßer, das machst du perfekt! Und jetzt schneiden wir die Äpfel. Pass ja mit dem Messer auf, es ist sehr scharf. Die Stückchen müssen noch kleiner werden, guck, wie deine Tante es macht. Gut gemacht, mein Schatz! Und jetzt legen wir sie auf den Teig, sieht der Kuchen nicht schön aus?“
Ich mochte Tante Grace viel lieber als meine Mutter, die meistens schlecht gelaunt war und genauso schlecht roch. Sie duschte nur einmal pro Woche, weil sie das Geld lieber für meine Zukunft sparen wollte, als es für die unnötigen Wasserkosten auszugeben. „Mein Sohn wird eines Tages aufs College gehen!“, verkündete sie ihrer Schwester, die sie insgeheim verachtete, weil sie älter als sie und immer noch unverheiratet war.
„Natürlich wird er das“, lächelte Tante Grace und küsste mich zärtlich,
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