Der Tag an dem ich erwachte
während ich auf ihrem Schoß saß, in ihren wunderbaren Duft eingehüllt, und mit ihren weichen Locken spielte. „Er ist ein kluges Köpfchen, nicht wahr, David?“ Ich nickte glücklich. Meine Mutter lobte mich nur selten, Tante Grace jedoch machte es bei jeder Gelegenheit.
„Wieso sind deine Haare immer so weich, Tante Grace?“, fragte ich, als ich eine Haarsträhne genüsslich durch meine Finger gleiten ließ.
„Weil ich sie jeden Tag wasche“, lachte sie, und meine Mutter grunzte missbilligend.
„Wasserverschwendung!“, murmelte sie, „aber deine Tante kann es sich ja leisten.“ Tante Grace gehörte eine kleine Konditorei, die sehr gut lief. Als sie die Stadt verließ und den Laden schloss, waren viele untröstlich, sie vermissten ihre wunderbaren Kuchen, Torten und Pralinen. Und ihr sanftes, strahlendes Lächeln, mit dem sie jeden ihrer Kunden begrüßte, bevor sie sich mit einem echten Interesse nach seinem Wohlergehen erkundigte. Ich liebte es, mich bei ihr im Laden aufzuhalten, mit fünf konnte ich fast selbständig meinen ersten Kuchen backen. Auch meine Freundin Ava kam gern in die Konditorei und half Tante Grace, wo sie nur konnte. Einmal stellte Tante Grace sie auf einen Hocker, sodass Ava über die Verkaufstheke schauen konnte. Immer bevor sie ein Stück Kuchen einpackte, gab sie ihn Ava, damit sie es den Kunden überreichen konnte. Ava strahlte stolz übers ganze Gesichtchen, und die Kunden waren entzückt.
„Was für ein süßer kleiner Engel!“, schwärmten sie.
„Ich habe noch einen von der Sorte hier“, lachte Tante Grace, „David, Schätzchen, komm her, zeig dich! Zeig, wie hübsch du in deinem neuen Pullover aussiehst!“ Meine Mutter sah es nicht gern, wenn Tante Grace mir Sachen kaufte, doch sie ignorierte es einfach.
„Du wirst das Kind noch zu einem verzogenen kleinen Teufel machen!“, schimpfte meine Mutter, „die ganzen Spielsachen und die ganzen Süßigkeiten…“
„Aber nicht doch, David ist doch so ein braver Junge! Und seine Geschenke hat er sich wirklich verdient, so wie er mir in dem Laden hilft, nicht wahr, Süßer? Erzähl deiner Mutter, was du gestern gemacht hast“, forderte sie mich auf.
„Ich habe ganz allein den Boden gewischt!“, strahlte ich stolz und hoffte, dass meine Mutter mich dafür loben würde. Doch sie schüttelte nur missbilligend mit dem Kopf.
Ava und ich hatten am demselben Tag Geburtstag, unsere Mütter lernten sich im Krankenhaus kennen. Avas Vater ließ ihre Mutter sitzen, nachdem er erfahren hatte, dass sie schwanger war, die beiden waren nicht verheiratet. Er packte einfach seine Sachen und verließ dir Stadt, während Avas Mutter schlief. Als sie aufwachte, war er nicht mehr da. Als sie ihre Schwangerschaft nicht mehr geheim halten konnte, warf ihr Arbeitgeber sie hinaus. Danach lebte sie von ihrem Ersparten, ernährte sich hauptsächlich von Kartoffeln und Dosenbohnen. Sie war sehr erleichtert, als Ava gesund auf die Welt kam. Meine Mutter beschaffte ihr einen Job in der Fabrik, in der sie und mein Vater arbeiteten. Dort hatten sich meine Eltern auch kennen gelernt. Mein Vater war ein Vorarbeiter und legte ein gutes Wort für Avas Mutter ein. Kurz darauf zog sie in unsere Nachbarschaft, damit meine Mutter und sie gegenseitig auf ihre Kinder aufpassen konnten, sie arbeiteten in Wechselschichten. Ava und ich wuchsen wie Geschwister auf, und Tante Grace witzelte ständig: „Eines Tages werdet ihr zwei Mäuschen noch heiraten!“
Mein Vater war nur selten zu Hause, nach dem Feierabend saß er meistens in seiner Stammkneipe und betrank sich mit seinen Kumpels.
„Er versäuft das ganze schöne Geld, das ich mir mühsam zusammenspare!“, hörte ich meine Mutter sich beklagen, wenn Avas Mutter ihre Tochter abholte.
„Wenigstens hast du einen Mann“, erwiderte sie traurig, „und dein Kind hat einen Vater. Sei froh, Chloe!“
Wenn Tante Grace bei uns zu Hause war, schien mein Vater ihre Anwesenheit gar nicht wahrzunehmen, während sie ihm stets mit einem distanzierten Respekt begegnete. Umso mehr waren wir alle bestürzt, als sie miteinander durchbrannten. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich meine Mutter betrunken erlebt. Sie leerte die Schnapsflasche meines Vaters beinahe in einem Zug und machte sich daran, seine verbliebenen Klamotten und Habseligkeiten (er nahm nur das Nötigste mit) im Garten zu verbrennen. Ich beobachtete sie aus weit aufgerissenen Augen, wie sie einen Gegenstand nach dem anderen ins Feuer warf.
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