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Der Tag an dem ich erwachte

Der Tag an dem ich erwachte

Titel: Der Tag an dem ich erwachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emilia Miller
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Dabei schrie sie laut seinen Namen und den ihrer Schwester und fluchte. Mit ihren zerzausten Haaren und fiebrig leuchtenden Augen sah sie aus wie die böse Hexe aus meinem Märchenbuch. Sie zerriss jedes einzelne Foto von ihm und von Tante Grace, sogar ihre gemeinsamen Kinderfotos. Das Einzige, was mich noch an sie erinnerte, war mein Spiegelbild. Aus irgendeinem Grund sah ich Tante Grace viel ähnlicher als meinen Eltern, ich war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Je älter ich wurde, umso mehr kam diese Ähnlichkeit zur Geltung. Umso mehr hasste mich meine Mutter. Ich las diesen brennenden Hass in ihrem Blick und hasste mich selbst dafür, dass sie mich hasste.
    Nachdem sie alle Fotos und alles, was sie an meinen Vater und meine Tante erinnerte, vernichtet hatte, schloss sie sich im Bad ein und würgte. Diese bedrohlichen Geräusche gaben mir den Rest, ich rannte in mein Zimmer, legte mich in mein Bett, steckte den Kopf unter das Kopfkissen, zitterte am ganzen Körper und weinte bitterlich. So hatte mich Avas Mutter gefunden. Sie umarmte mich, hielt mich fest und wiegte mich, als wäre ich noch ein kleines Baby. „Beruhige dich, Schätzchen, atme tief ein und aus, es wird alles wieder gut!“, flüsterte sie tröstend, während sie meinen Kopf streichelte. „Du kommst jetzt zu uns nach Hause, zu mir und Ava, ich mache euch einen schönen heißen Kakao und lese euch ein Märchen vor.“ Danach kümmerte sie sich um meine Mutter. Sie half ihr, sich auf die Couch zu legen, drückte ihr eine kalte Kompresse auf die Stirn und deckte sie zu. „Ich nehme den Kleinen mit, Chloe“, sagte sie leise, „er sollte seine Mutter nicht so sehen. Schlaf dich aus, meine Liebe. Morgen stehst du wieder auf, trinkst einen Kaffee und gehst zur Arbeit. Das Leben geht weiter!“
    Sie sollte r echt behalten: Das Leben ging weiter. Doch es war nichts mehr wie zuvor. Meine Mutter ertrank nun fast jeden Abend ihren Kummer im Alkohol, bevor sie ihn anschließend im Bad wieder rauskotzte. Sie kümmerte sich weder um mich noch um den Haushalt. Avas Mutter, die ich Tante Abigail nannte, ließ nichts unversucht, um meine Mutter wieder aufzupäppeln, doch es gelang ihr genauso wenig wie es mir gelang, sie zufrieden zu stellen. Egal, wie sehr ich mich ins Zeug legte, egal, wie viel ich im Haushalt machte, egal, wie gut ich in der Schule war, fand sie immer und an allem etwas zu meckern. Hin und wieder ertappte ich sie dabei, wie sie mich ansah. Es war kein Hass mehr, der aus ihren Augen sprach, es war… Ekel! Sie ekelte sich vor mir! Meine Welt war in sich zusammengebrochen wie ein Kartenhaus. Meinen Vater vermisste ich nicht, denn ich kannte ihn kaum, vielmehr war ich über den Verlust seiner mürrischen Anwesenheit erleichtert. Doch Tante Grace vermisste ich mit einer Wucht, die mir das Herz brach. Ich weinte mich jeden Abend in den Schlaf. Manchmal sprach ich mit ihr und stellte mir ihr schönes Gesicht vor, ihr sanftes Lächeln, den strahlenden Glanz ihrer Augen. Rief mir ihren leiblichen Duft in Erinnerung. Im Frühling sammelte ich Maiglöckchen und stellte sie in ein Glas neben mein Bett. Ich roch daran und fühlte mich ihr nahe. „Komm mich holen, Tante Grace, bitte, komm mich holen!“, flehte ich sie an. Und dann sah ich meine Mutter. Sie stand an der Türschwelle und starrte mich mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck an, den ich nicht zu deuten vermochte. Ich zuckte vor Angst zusammen, spürte, wie es mir eiskalt den Rücken herunterlief. Wollte mir gar nicht ausmalen, was sie jetzt mit mir machen würde. Doch wider Erwarten tat sie nichts, sie schloss lediglich die Tür hinter sich zu und ging sich betrinken. Am nächsten Tag kam sie etwas früher als erwartet nach Hause, voll bepackt mit unterschiedlich großen Plastiktüten, auf denen der Name unseres Kleider Discounts gedruckt war. Mein Herz machte einen Satz vor Freude: Endlich hatte sie daran gedacht, mir neue Klamotten zu kaufen! Aus meinen alten war ich schon längst herausgewachsen, und die Kinder in der Schule hänselten mich ununterbrochen, weil meine Hosen viel zu kurz waren, genau wie die Ärmel meiner alten Pullover, die ich noch von Tante Grace hatte. Doch, als meine Mutter den Inhalt der Tüten auspackte, sah ich sie verdutzt an. Sie musste endgültig den Verstand verloren haben: Es waren Mädchenklamotten!
    „David, komm her“, verlangte sie. „Probiere deine neuen Sachen an!“ Ich blieb wie angewurzelt stehen. „Beweg dich schon!“, sagte sie genervt.

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