Der Tag an dem ich erwachte
sich einen Film aus, aber denken Sie bitte nicht allzu lange nach, entscheiden Sie sich einfach spontan. Und wenn ich wieder komme, können Sie mir hoffentlich sagen, ob der F ilm irgendwelche Erinnerungen bei Ihnen geweckt hat. Ich bin pünktlich zum Mittagessen da“, versprach er. Ich lauschte seinen Schritten, die sich langsam im Flur entfernten und fühlte mich auf einmal so verlassen und einsam, dass ich schon wieder weinen musste. Eine Welle der Hoffnungslosigkeit legte sich wie ein Eisberg auf meine Lungen und ließ mich keuchen wie eine Ertrinkende. Es war so, als würde ich ohne Ryan gar nicht existieren, als wäre ich eine Ausgeburt meiner eigenen Fantasie, ein Geist ohne Körper, oder, besser gesagt, ein Körper ohne Geist. Ich öffnete das Fenster, steckte meinen Kopf hinaus und spielte einen Augenblick lang mit dem Gedanken, herunter zu springen. Doch dafür lag das Fenster nicht hoch genug, stellte ich sofort enttäuscht fest, ich würde mir höchstens ein paar Knochen brechen und mir eine weitere Gehirnerschütterung zuziehen. Also besann ich mich eines Besseren und atmete die frische Luft tief und genüsslich ein. Ja, so roch der frühe Herbst, dachte ich mit geschlossenen Augen, nach Laub und Regen und nach etwas Anderem, Undefinierbarem, was vermutlich eine ganz persönliche Assoziation war, die tief in meinem Unterbewusstsein verborgen lag. Dieses versteckte etwas flüsterte mir zu, dass ich den Herbst liebte, womöglich mehr als jede andere Jahreszeit. Ryan liebte den Sommer, und ich liebte den Herbst. Er liebte das Meer, und ich… Nimm dich endlich zusammen, schalt ich mich streng. Es bringt nichts, Trübsal zu blasen. Es ist auch nicht sicher, ob überhaupt irgendetwas noch was bringt, es bleibt abzuwarten. Ryan hatte von einer temporären Amnesie gesprochen (ich beglückwünschte mich zu der Tatsache, zu wissen, was temporär bedeutete), doch was, wenn sie nicht temporär war? Ich fiel aufs Bett, legte mich auf den Bauch und vergrub mein Gesicht in mein Kopfkissen. Was war schlimmer? Für immer ohne Erinnerung zu bleiben oder mit einer Erinnerung leben zu müssen, die es einem unmöglich machte, weiter zu leben? Verdammt noch mal, wenn ich mich doch wenigstens an meinen Namen erinnern könnte! „Also, gut, Frau ohne Namen“, sagte ich laut und zuckte bei dem Geräusch meiner Stimme ängstlich zusammen, „wenn du schon Angst vor deiner eigenen Stimme hast, wollen wir doch sehen, vor was du sonst noch Angst hast. Was für Filme hat der gute Ryan für uns wohl ausgesucht?“ Dabei wurde mir bewusst, dass ich mit mir wie mit einer fremden Person sprach. Egal, Hauptsache, irgendjemand sprach mit mir, auch wenn es nur ich selbst war. Ich nahm den dicken Stapel DVD’ s mit ins Bett und begutachtete sie neugierig. „Pretty Woman, eine Liebesschnulze aus den Neunzigern, ja, ich erinnere mich!“, jubelte ich laut. „Die schöne Prostituierte, die sich einen sensiblen Millionär angelte, sehr hübsch, aber dafür bin ich gerade nicht in der Stimmung. Dann lass uns mal weiter sehen, was wir sonst noch hier haben. Oh, ein Horrorfilm! Der liebe Doktor will wohl aufs Ganze gehen? Nein, lieber nicht, es ist alles schon gruselig genug. „Frühstück bei Tiffany“, na, wer sagt’ s denn, kenne ich, mag ich, will ich.“ Ich schob die DVD hinein, machte es mir auf dem Bett bequem und merkte nach einer Weile, dass ich ein idiotisches Grinsen im Gesicht hatte. Gleichzeitig wurde mir klar, dass ich diesen Film mehr als nur einmal gesehen haben musste, denn ich kannte den Text teilweise sogar auswendig. „Weißt du, woran es dir fehlt, du armes Ding ohne Namen?“, sprach ich synchron mit George Peppard, „du hast Angst, du hast keine Courage! Du bist ein Kind, das Angst hat, alles so zu nehmen, wie es ist! Menschen verlieben sich nun mal! Menschen gehören zusammen, weil das die einzige Möglichkeit ist, ein wenig glücklich zu werden!“ Ich heulte schon wieder und war froh, dass Ryan mir eine volle Packung Taschentücher dagelassen hatte. „Du armes Ding ohne Namen“, sagte ich laut, „anscheinend bist du ein ganz rührseliges, sentimentales Weibchen. Das passt so gar nicht zu der Tat, der du verdächtigst wirst, soviel steht fest. Doch fand man nicht in den Taschen der Kriegsverbrecher der Vergangenheit Bilder von ihren Frauen und neugeborenen Babys neben den Bildern ihrer zu Tode gefolterten Opfer?“ Ich sah sehnsüchtig auf die Uhr: „Ryan, wo bist du? Wann kommst du endlich?“ Die nächste
Weitere Kostenlose Bücher