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Der Tag an dem ich erwachte

Der Tag an dem ich erwachte

Titel: Der Tag an dem ich erwachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emilia Miller
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ich will trinken, ich muss trinken! Bitte, lieber Gott, lass mich trinken! Vater unser, geheiligt werde dein Name, lass mich trinken! Dein Reich komme, dein Wille geschehe. Lass mich trinken! Wie im Himmel so auf Erden. Lass mich trinken! Es ist dunkel, so dunkel, dass ich nicht einmal meine eigene Hand sehen kann, ich kann sie nur auf meiner feuchten Stirn spüren, die so heiß ist, dass ich mich fast daran verbrenne. Ich muss hohes Fieber haben, mir ist kalt, ich zittere. Ich bin vollkommen nackt. Ich umarme meinen Körper mit meinen schwachen Armen und versuche, ihn auf diese Weise aufzuwärmen, ohne Erfolg. Der kalte Schweiß klebt an mir wie eine Zellophantüte mit undefinierbarem, übel riechenden Inhalt. Bin ich das? Durst, Wasser, Trinken. Die Luft ist stickig und staubig, ich ersticke. Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld. Lass mich sterben! Aber lass mich vorher einen Schluck Wasser trinken, bloß einen einzigen! Die Tür geht auf, und ich werde von einem grellen Licht geblendet. Eine Taschenlampe leuchtet mir direkt ins Gesicht. Ich falle auf die Knie und halte meinen Kopf auf den Boden gerichtet.
    „Du darfst zu mir aufschauen“, höre ich eine tiefe, wohlklingende Stimme. Ich hebe den Kopf und merke, dass Er die Taschenlampe ausgeschaltet hat. Stattdessen hat Er eine Kerze angezündet und sie auf den Boden gestellt. Ich sehe eine große Gestalt, die den kleinen Verließ, in dem ich wie ein Tier festgehalten werde, vollkommen auszufüllen scheint. Habe ich je so einen großen Menschen gesehen, frage ich mich und wundere mich über die Absurdität meiner Gedanken: Ich bin mir schon lange nicht mehr sicher, ob ich überhaupt je zuvor einen Menschen gesehen hatte. Der Mann, der vor mir steht, könnte auch ein Zwerg sein, trotzdem würde er mir wie ein Riese vorkommen. Er trägt einen schwarzen Anzug, und Sein Gesicht ist maskiert. Wenn ich es nur sehen könnte! Vielleicht könnte ich dann erahnen, was Er mit mir vorhat. Diese Frage plagt mich schon so lange, so unendlich lange… Seit Tagen, seit Wochen, seit Jahren? Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass ich Ihm gehorchen muss.
    „Du darfst sprechen“, sagt Er schließlich, doch ich traue mich nicht, zu groß ist die Angst vor Seiner Bestrafung. „Sprich zu mir!“, fordert Er mich erneut auf, es klingt fast zärtlich.
    „Wasser“, flüstere ich, dabei ist meine Kehle so ausgetrocknet, dass ich einen heftigen Hustenanfall bekomme.
    „Armes Kind!“, sagt Er bedauernd, „wenn du nur wüsstest, wie sehr ich leide, wenn ich dich so sehen muss. Ich weiß nicht, wer von uns beiden am meisten leidet.“
    „Bitte, Herr, Wasser!“, keuche ich mit meiner letzten Kraft.
    „Wie heißt du, mein liebes Kind?“, fragt Er mich sanft. „Sag mir deinen Namen!“
    „Ich weiß ihn nicht mehr“, weine ich und krieche zu Ihm, um Seine Füße zu umarmen und Seine Stiefel zu küssen. „Bitte, bitte, Gebieter, gebt mir einen Schluck Wasser, bloß einen kleinen!“
    „Sag mir zuerst deinen Namen, denk nach! Wie heißt du?“
    Ich rufe etwas, was mir spontan einfällt, und Er verpasst mir einen brutalen Schlag in die Rippen mit der Spitze Seines Stiefels. „Das war leider die falsche Antwort, Kleines, also gibt es erstmal kein Wasser für dich. Merk dir das und denk nächstes Mal lieber besser nach!“ Er schlägt die Tür verärgert hinter sich zu und lässt die brennende Kerze auf dem Boden stehen. War es Versehen oder Absicht? Natürlich, war es Absicht, Er würde nie etwas aus Versehen tun! Im schwachen, flackernden Licht erkenne ich die modrigen, verschimmelten Wände der kleinen Kammer, die mein Zuhause ist. „Zuhause“, sage ich leise und schließe die Augen, doch es wollen mir einfach keine Bilder zu diesem Wort einfallen, außer diesen vier Wänden. Hatte ich jemals ein richtiges Zuhause oder war ich schon immer hier? Ich erblicke den Eimer, der in einer Ecke steht und einen widerlichen Gestank verbreitet. Ich weiß, dass Er ihn erst auswechseln wird, wenn er ganz voll ist. Er ist nur halbvoll. Trotzdem habe ich schon zweimal daraus getrunken, um mich gleich danach zu übergeben. Nicht in den Eimer, sondern daneben. Die Reste des Erbrochenen hängen immer noch in meinen Haaren, mittlerweile wurden sie zu festen Klumpen. Außer diesem Eimer ist nichts zu sehen, also riskiere ich einen Blick auf meinen Körper herunter. Was ich sehen und ertasten kann, sind lange, dünne Beine mit großen Füßen und langen, gebogenen, gelben

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