Der Tag an dem ich erwachte
ich war unschuldig!
Ryan, wann kommst du endlich ? Wo bist du? Du steckst doch nicht in Schwierigkeiten? Denn, wenn es so wäre, könnte ich es nicht verantworten. Ich will dich glücklich machen, Ryan!
Mein Glas war schon wieder leer, und ich begab mich wieder ins Haus. Ryans Haus, in dem er mich so selbstlos aufgenommen hatte. Er kannte mich erst seit ein paar Tagen, dennoch riskierte er für mich alles, was ihm lieb und teuer war: Seinen guten Ruf, seine mühsam aufgebaute Karriere, gar sein Leben. „Oh, Ryan, ich würde sofort dasselbe für dich tun!“, rief ich laut, und noch b evor ich diesen Satz zu Ende sprach, wurde mir bewusst, dass ich ihn ernst meinte. Wenn es die wahre Liebe tatsächlich gab, die einzig wahre, alles verschluckende, alles Gegensätzliche verneinende Liebe, wie man sie nur aus den Märchen kannte… dann war ich ihr begegnet. Ich sah aus dem Fenster und fixierte den größten Baum, der am Rand der Lichtung stand, mit meinem Blick, der immer benebelter wurde. Trotzdem goss ich mir ein weiteres Glas ein und beobachtete, wie immer weitere Blätter von dem Baum herunterfielen. Ich sah auf die Uhr, es war später Nachmittag. Von Ryan immer noch keine Spur. Würde ich hier, in diesem schönen Haus, bald einsam und qualvoll verenden? Würde ich einen Hungertod erleiden, nachdem ich alle Vorräte aus Ryans Schränken geleert hatte? Und, wenn dieser Fall tatsächlich eintreffen würde… Leiber Gott, Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name, lass es bitte nicht zu… Würde mich dann überhaupt jemand außer Colin Mills vermissen? Ich leerte mein Glas in einem Zug und verkündete laut: „Colin Mills, du bist ein elender Bastard, eine fette, hässliche, stinkende Missgeburt! Und ich werde den Teufel tun, dich zufrieden zu stellen, nur, damit du deine beschissene Quote hältst! Das kannst du glatt vergessen, du Hurensohn, wobei ich keinen Sohn einer Hure mit diesem Vergleich beleidigen möchte!“ Ich füllte mein Glas mit einem neuen Inhalt und gab gleich die doppelte Menge Zucker hinein, um mir diesen einsamen, bitteren Nachmittag einigermaßen zu versüßen.
„Lass uns ins Arbeitszimmer gehen!“, schlug ich mir vor und folgte meiner eigenen Anweisung. „Es ist immer besser, gleich zu gehorchen“, murmelte ich, als ich mich auf Ryans Massagesessel setzte. „Eine Massage gefälligst?“, fragte ich laut und lachte vergnügt. „Nein, lieber keine Ablenkung“, lautete die Antwort, die ich mir selbst gab. „Konzentration!“
Ich fuhr den Computer hoch und gab in die Suchmaschinen „Ryan Boyle“ ein. Kurz danach wurde ich mit den Abbildungen seines schönen Gesichts belohnt. Ich streichelte den leblosen Bildschirm in der törichten Hoffnung, ihn auf diese Weise zu mir zu bringen. „Ryan, mein Liebling“, flüsterte ich, „wo bist du?“ Es gab unzählige Einträge über ihn im Netz, und ich klickte einen nach dem anderen an, um den Mann, den ich liebte, besser kennen zu lernen. „Du bist in London geboren“, sagte ich leise, während ich weiter las. „Deine Eltern waren beide Ärzte, also, hast du mir die Wahrheit erzählt. Beide waren sehr erfolgreich, beide recht jung gestorben. Es tut mir so leid, Ryan! Was musst du nur durchgemacht haben? Es war ein Unfall, eine Gasleitung in eurem Haus war plötzlich explodiert. Zu dem Zeitpunkt warst du erst zwölf Jahre alt. Du gingst aus dem Haus, um mit deinen Freunden zu spielen, als du einen lauten Knall hinter dir hörtest. Das war das Ende deiner Kindheit, nun warst du auf dich allein gestellt. Deine Tante mütterlicherseits, eine verbitterte alte Jungfer, nahm sich deiner an. Nicht etwa aus Sympathie oder aus Nächstenliebe, sondern, weil sie keine andere Wahl hatte. Deine Mutter, Gott hab sie selig, hatte sie nämlich als deinen Vormund im Falle ihres Todes eingetragen, da sie ihre einzige Schwester war. Dabei hatten die beiden seit Jahren keinen Kontakt mehr miteinander. Hätte sie gewusst, was aus ihrer einzigen Schwester im Laufe der Jahre geworden war, wäre ihre Entscheidung sicherlich anders ausgefallen. Die Frau war eine verbissene religiöse Fanatikerin, die dir von Anfang an die Schuld an dem Tod deiner Eltern gab. Sie ging sogar davon aus, dass du vom Teufel besessen warst und unterzog dich mehrmals einem Exorzismus durch den Priester ihres Vertrauens. Dieser Mistkerl wurde einige Jahre danach des Kindesmissbrauchs beschuldigt und eingesperrt. Im Knast nahm er sich schließlich das Leben durch Erhängen an einem
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