Der Tag an dem ich erwachte
ich voller eigenartiger Wehmut, die ich nicht in Worte fassen konnte.
„Was empfindest du dabei?“, erkundigte sich Doktor Boyle, der Psychologe, der polizeiliche Gutachter, der sich kürzlich auf die Seite des Feindes geschlagen hatte. Auf die Seite einer eiskalten Mörderin, die einen Mann gefoltert und ihn anschließend getötet hatte. Ihn auf eine unaussprechliche Weise verunstaltet, sein Gesicht mit mehreren Messerstichen zerschnitten, ihm die Augen ausgestochen und ihn langsam verbluten ließ. Bevor sie ihm die Genitalien abschnitt und sie in seinen Mund steckte. Die Gerichtsmediziner hatten festgestellt, dass er zu dem Zeitpunkt noch lebte und das Ganze mitbekommen hatte. Er wusste, was ihm angetan wurde, während er einen unglaublich qualvollen Tod erlitt. Wieso verteidigte er dieses Monster? Weil es sich dabei um eine zarte, wunderschöne Frau handelte, die ihm so perfekt einen blies wie noch keine Frau zuvor? Oder weil er von ihrer Unschuld so felsenfest überzeugt war, wie er es behauptete?
„Ich empfinde eine tiefe Trauer“, sagte ich schließlich und weinte bitterlich. „Eine Trauer um den armen Mann, der brutal ermordet wurde, um den ande ren Mann, der ertrank und um die Frau, die diese Tragödie überlebte, ohne zu ahnen, was sich tatsächlich abgespielt hatte… Um mich. Aber auch um den alten Mann, dessen Geschäft dank dieses Vorkommnisses den Bach heruntergeht. Und um seine verstorbene Ehefrau, die ihn mit dem ganzen Elend allein ließ. Um seinen Enkelsohn Billy, der nun kein florierendes Unternehmen erben wird. Ich bin traurig, weil ich nicht weiß, wer ich bin und weil die Welt, in der ich gefangen bin, einfach nur schlecht ist, Ryan! Die Welt ist schlecht, und der Gott, zu dem ich bete, will mich einfach nicht erhören! Womöglich hat er mich schon längst von seiner Liste gestrichen, weil ich böse bin. Ein Monster, ein Ungeheuer, das sich hinter dem Aussehen einer jungen, hübschen Frau versteckt, darauf lauernd, im richtigen Moment zuzugreifen und Leben zu zerstören, so viele Leben, wie es nur erwischen kann. Wieso hast du keine Angst vor mir, Ryan? Ich habe doch selbst Angst vor mir!“
Ryan sah mich nachdenklich an und verkündete: „Ich werde dir ein leichtes Antidepressivum verabreichen, Holly. Das hätte ich schon längst tun sollen, mein Fehler. Es wird dir bald besser gehen, Schatz, versuch, dich zu beruhigen und unseren Ausflug zu genießen. Sieh dir nur das Meer an, wie schön es in dem Sonnenlicht schimmert. Ich tat wie mir geheißen und spürte, dass ich plötzlich lächelte.
„So ist es brav, mein Mädchen“, lobte mich Ryan, doch noch bevor er den Satz zu Ende sprach, hielt ich mir die Ohren zu und schrie so laut, dass mein Hals mir dabei wehtat.
„Nenn mich nie wieder so, du Scheißkerl! Ich bin nicht dein Mädchen! Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich ! Verrecken sollt du!“ Danach sank ich auf die Knie und hielt meinen Kopf schützend zwischen meinen zitternden Händen, bevor ich voller Reue flüsterte: „Es tut mir leid, Gebieter! Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, bitte, bitte , verzeih mir, bitte, bestraf mich nicht! Ich tue alles, was du von mir verlangst. Alles, was du willst. Alles. Ich bin dein liebes Mädchen, bitte hab mich lieb!“
Ryan starrte mich schweigend an, seine Augen vor Schock geweitet. Danach ging er so vorsichtig auf mich zu, als wäre ich eine Porzellanvase, die bei jeder plötzlichen Bewegung in tausend Scherben zerbrechen könnte. „Holly. Sieh mich an! Ich bin es, Ryan! Ich habe mich für dich als Pedro verkleidet, erinnerst du dich?“, lächelte er mich an. „Nun komm, steh wieder auf.“ Doch ich bewegte mich nicht von der Stelle, ich wollte am liebsten für immer auf dem Boden liegen bleiben, bis sich mein Körper in Staub auflöst. Schließlich legte sich Ryan neben mich, umarmte mich fest und sagte kein Wort. So lagen wir eine ganze Weile da, bis ich aus meiner Starre erwachte.
„Ich will mich nicht erinnern“, flüsterte ich, drehte mich um und sah Ryan eindringlich in die Augen. „Können wir es nicht einfach dabei belassen, Ryan? Wir machen einfach weiter wie bisher, du gehst deinem gewohnten Leben nach und besuchst mich hin und wieder. Ich bleibe für immer in deinem Waldhäuschen, halte es für dich sauber und koche für dich, wenn du kommst. Ich bin einfach nur deine Holly, ein armes Ding ohne Namen, ohne Vergangenheit. Wer braucht schon eine Vergangenheit? Ich nicht!“
„Aber du hast eine“,
Weitere Kostenlose Bücher