Der Tag an dem ich erwachte
die keinen Vater hatten, und die anderen Kinder verspotteten uns. Sie nannten uns „Bastarde“, bespuckten uns und bewarfen uns sogar mit Steinen. Als ein besonders großer Stein Avas Stirn traf, wurde sie ohnmächtig und fiel herunter. Die Kinder kreischten entsetzt und rannten davon, während ich versuchte, die starke Blutung zu stillen, indem ich mein Taschentuch fest gegen Avas Platzwunde presste. Zum Glück kam in diesem Moment eine Lehrerin und rief den Notarzt. Der Krankenwagen kam in wenigen Minuten in Begleitung einer lauten Sirene, die Sanitäter hoben Avas leblosen Körper mit blutüberströmtem Kopf hoch und trugen ihn in den Wagen hinein. Ich durfte mitfahren. Die ganze Fahrt lang betete ich zu dem lieben Gott, Ava möge überleben. Und Er hat mich erhört: Sie hat überlebt, wenn auch nur knapp. Sie hat eine Menge Blut verloren, und es hat mehrere Tage gebraucht, bis sie ihr Bewusstsein wieder erlangte. Danach versetzte man uns beide an eine andere Schule, an die überwiegend Kinder aus den Arbeiterfamilien gingen. „Damit die Mädchen sich unter ihresgleichen befinden“, meinten die beunruhigten Schulbehörden. Doch auch dort begegnete man uns mit einer Feindseligkeit, die wir mittlerweile gewohnt waren. Trotzdem konnten wir endlich aufatmen, denn an dieser neuen Schule ließ man uns mehr oder weniger in Ruhe. Wir wurden zwar von unseren Mitschülern ignoriert, als hätten wir so etwas wie eine ansteckende Krankheit (sie hieß Vaterlosigkeit und war nicht ansteckend!), doch niemand bewarf uns mit Steinen, abgesehen davon durften wir zusammen bleiben. Solange wir einander hatten, war uns egal, was die anderen von uns hielten, zumindest versuchten wir es uns gegenseitig einzureden. Nach der Schule machten wir gemeinsam die Hausaufgaben. Ava war gut in Mathe, Physik und Chemie, und ich in Geschichte, Englisch und den kreativen Fächern. So ergänzten wir uns perfekt und halfen uns gegenseitig. Danach halfen wir unseren Müttern beim Haushalt, genau genommen machten wir alles ganz allein, weil unsere Mütter nach der Arbeit viel zu erschöpft waren. So lernte ich früh alles, was eine gute Hausfrau können muss: Kochen, Putzen, Waschen und Bügeln. Ava und ich erledigten alles gemeinsam, zuerst in ihrer Wohnung und dann in unserer. Abends, bevor wir schlafen gingen, machten wir es uns auf der Couch vor dem Fernseher gemütlich, belohnten uns mit einer Tüte Chips und sahen uns unsere Lieblingsseifenopern an. Vor den besonders wichtigen Tests fragten wir uns noch mal gegenseitig ab. Wir waren beide sehr gute Schülerinnen, für ein Stipendium reichten unsere Leistungen jedoch leider nicht aus. So nahm ich nach dem Schulabschluss einen Job als Bedienung an. Meinem Chef gehörte eine kleine Bistrokette. Morgens servierten wir unseren Kunden Frühstück, mittags ein ständig variierendes Mittagessen, schmackhaft und günstig, nachmittags Kaffee und Kuchen, und abends Cocktails und andere Spirituosen. Ich war fleißig, freundlich und zuvorkommend, die Kunden mochten mich und hinterließen mir immer ein gutes Trinkgeld, von dem ich mir sogar einige hübsche Kleider leisten konnte. Als ich zum dritten Mal hintereinander zur Kellnerin des Monats gewählt wurde, beförderte mich mein Chef. Nun arbeitete ich nur noch abends als Bardame und verdiente ganze zwei Dollar die Stunde mehr. Am Anfang konnte ich mein Glück kaum fassen. Doch schon bald wünschte ich mir, ich wäre nie befördert worden! Denn die Männer, die ich abends bediente, unterschieden sich grundlegend von der Klientel, die ich bisher kannte: Sie betranken sich hemmungslos und machten mir zweideutige Komplimente, die mir das Blut ins Gesicht steigen ließen. Je stärker ich errötete, desto mehr reizte es sie. Manche machten sogar Anstalten, mich hinter der Bartheke anzufassen und machten mir unmissverständliche Angebote. Jeden Abend hatte ich Angst vor dem Nachhauseweg, da ich hinter jedem Baum eine Gestalt vermutete, die mir auflauerte. Es war ein Alptraum! Derweil arbeitete Ava bei einer Bäckerei, das was der beste Job, den sie nach ihrem Schulabschluss ergattern konnte. Sie verd iente viel weniger als ich und hatte eine unausstehliche Chefin, einen richtigen Drachen, der ihr jeden Tag das Leben zur Hölle machte. Schließlich traute ich mich, meinen Chef auf die Missstände anzusprechen, die mir die Arbeit beinahe unmöglich machten und schlug ihm vor, Ava als eine Unterstützung für mich einzustellen. Mein Chef war ein gewiefter
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