Der Tag an dem ich erwachte
„Nein, wir trinken sie, wieso auch nicht?“ Der Kellner stellte die hohen Cocktailgläser auf unseren Tisch und ging, anscheinend erlebte er jeden Abend Ähnliches.
„ Avie, was machen wir hier nur?“, fragte ich, mittlerweile vom Champagner völlig benebelt.
„Keine Ahnung!“, erwiderte sie, nicht minder betrunken. „Ist auch egal. Vielleicht ist es endlich an der Zeit, etwas zu wagen, findest du nicht? Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber was mich betrifft… Ich langweile mich zu Tode!“ Unsere Unterhaltung verstummte abrupt, als zwei gut aussehende Männer mittleren Alters vor uns standen und uns höflich fragten, ob sie sich zu uns gesellen durften. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, meine Stimme versagte, und ich hätte Ava am liebsten auf der Stelle umarmt, als sie mit einer unglaublich festen, selbstbewussten Stimme erwiderte: „Gerne!“, bevor sie einladend auf die beiden leeren Stühle an unserem Tisch zeigte. So begegnete ich meinem Mann, der Liebe meines Lebens. Natürlich konnte ich es zu diesem Zeitpunkt unmöglich ahnen. Ehrlich gesagt, war ich äußerst misstrauisch und fragte mich, was diese feinen Gentlemans in teuren Anzügen von zwei Provinzgänsen wie uns wollten. Ach ja, natürlich, was sonst, dachte ich genervt. Das Gleiche, was die meisten Kunden von uns wollten. Doch diese Männer waren so anders als alle, die wir bisher kannten, dass sie uns wie fremdartige Aliens vorkamen. Sie waren nicht nur anders gekleidet als die Männer in unserem Kaff, sie drückten sich auch viel gepflegter aus und hatten so perfekte Umgangsformen, dass Ava und ich uns plötzlich irgendwie schäbig und ungehobelt vorkamen. Doch sie behandelten uns mit so viel Respekt, dass wir uns bald entspannten und angeregt mit den beiden plauderten. Ich stellte überrascht fest, dass wir durchaus in der Lage waren, eine interessante und geistreiche Konversation zu führen und fühlte mich auf einmal unsagbar stolz. Und mächtig, ein völlig neues Gefühl. Denn, obwohl Ava diejenige war, die am meisten von uns beiden sprach, spürte ich, dass der Mann, dem von Anfang an meine volle Aufmerksamkeit galt, sich von mir angezogen fühlte. Ava zwitscherte die ganze Zeit wie ein Vögelchen, und ich bewunderte unwillkürlich den angenehmen Klang ihrer Stimme, als sie von ihrem Traum von einer Schauspielkarriere erzählte. Sie verstand sich darauf, ihre misslungenen Vorsprechen in einem unheimlich komischen Licht darzustellen, sodass wir alle vergnügt lachten. Sie machte den verzückten Gesichtsausdruck des Regisseurs nach, als er sich für eine Schauspielerin entschied, die einen volleren Busen hatte. Danach imitierte sie die strenge Empfangsdame, die ihr ihre Setkarte wieder aushändigte und ihr schadenfroh eine gute Heimreise wünschte. Die vielen Cocktails lockerten ihre Zunge, sodass sie völlig aus sich herausging. Ich erwog den Gedanken, sie vor dem nächsten Vorsprechen mit Alkohol abzufüllen und kicherte dabei. Plötzlich spürte ich seine Hand auf meiner und erschrak. Doch es war kein richtiges Erschrecken, oh nein. Es war ein unbekanntes, wohliges Gefühl, das meinen ganzen Körper vibrieren ließ wie die Saite eines Musikinstruments unter der Hand des Musikers. Ich fühlte ein eigenartiges Pochen an den Stellen, die mir bisher nur beim Duschen angenehme Empfindungen bescherten, wenn ich mir heimlich erlaubte, meine Hand etwas länger als nötig darauf zu lassen. Hatte er es etwa gemerkt? Oh Gott, bitte nicht, dachte ich beschämt, während mir die Röte ins Gesicht stieg.
„Und wovon träumen Sie ?“, hörte ich seine neugierige Frage, als ich seinem eindringlichen Blick begegnete. Und plötzlich wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich keine Antwort darauf wusste. Mein ganzes Leben lang war ich nur darauf bedacht, zu funktionieren, um es jedem recht zu machen: Meiner Mutter, meinen Lehrern, meinem Chef, sogar meinen Kunden… Als ich tief in mich hineinhorchte, stellte ich fest, dass ich in der letzten Zeit lediglich davon träumte, dass Ava endlich eine Rolle bekam. Und was war mit mir ? Wer war ich ?
„Ich weiß es nicht!“, beantwortete ich meine stumme Frage, bevor ich entsetzt bemerkte, dass ich laut gesprochen hatte.
„Aber Sie müssen doch wissen, was Sie glücklich machen würde?“, hackte der schönste Mann, den ich je gesehen hatte, nach. Er war nicht im herkömmlichen Sinne schön, genau betrachtet, hatte sein Aussehen mit dem gängigen Schönheitsideal nicht viel zu tun. Er war sehr
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