Der Tag Delphi
lange.
McCracken hatte den Mann zuerst für betrunken gehalten, doch dann hatte er bemerkt, daß er nur nach oben zu dem Hubschrauber sah, der die Dunkelheit mit seinem Suchlicht zerschnitt. Blaine schwenkte von der Florida Avenue auf den Mayfair Boulevard und näherte sich dem Mittelpunkt von Coconut Grove: Cocowalk, ein offener Gebäudekomplex mit vier Etagen, der aus Läden und Boutiquen bestand, die zwischen zahllosen Nachtclubs eingezwängt waren. Er hatte Vincente Ventanna vor nur zwei Stunden gefesselt und geknebelt in einem Lagerraum in der Tiefgarage des Tidemark in der Key Colony zurückgelassen. Es ging jetzt auf ein Uhr morgens zu, und die Nacht im Grove heizte sich noch immer auf. Heiße Gitarrengriffe kämpften mit einem Möchtegern-Mick-Jagger um die Lufthoheit, während noch immer ›Sympathy for the Devil‹ spielte.
»Ich suche nach einem Waffenschmuggler«, hatte McCracken auf dem Balkon der Penthouse-Wohnung zu Ventanna gesagt, während das Geheul sich nähernder Sirenen durch die Nacht zu ihnen klang. »Nennt sich Manuel Alvarez. Ich glaube, du kennst ihn.«
»Ja, aber er ist eigentlich nur wie ein Fremder …«
McCracken drückte Ventannas Oberkörper über das Geländer. »Du hast dich entschieden, in das Waffengeschäft einzusteigen, Ventanna, und Alvarez hat sich bereit erklärt, dein Lieferant zu sein. Er beliefert im übrigen halb Florida. Wie ich mitbekommen habe, sollen die Schulen jetzt ein großer Markt sein. Ich will den Kerl haben.«
Ventanna sah ängstlich in Blaines Augen. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, amigo, aber Sie werden niemals auch nur in die Nähe von Alvarez kommen.«
»Nein, Vincente. Aber du. Du hast für heute abend ein Treffen mit ihm vereinbart. Und du wirst mir jetzt sagen, wo.« McCracken lockerte seinen Griff und strich Ventannas Revers gerade. »Und du wirst mir einen Anzug borgen.«
Da Ventanna seine Kleider lang und übergroß trug, saßen sie ganz annehmbar. Akzeptabel war auch die Bestätigung des Drogenhändlers, daß er heute abend den geheimnisvollen Alvarez tatsächlich zum erstenmal treffen wollte. Er sollte den Baja Beach Club in Cocowalk durch den Eingang in der zweiten Etage betreten und einen weißen Anzug mit einer Rose am rechten Revers tragen. Leute von Alvarez würden dort auf ihn warten.
Als McCracken in den palmengesäumten Innenhof des Cocowalk trat, wurde er sich augenblicklich bewußt, wie sehr er aus der Menge hervorstach. Es waren kaum Erwachsene hier, mit Sicherheit keine seines Alters, und seine Kleidung paßte überhaupt nicht. Niemand in Sichtweite trug einen Anzug, wodurch die Leute von Alvarez um so leichter den Mann ausmachen konnten, den sie für Ventanna hielten, sobald er den Baja Beach Club betrat. Das Suchlicht des Hubschraubers drang von oben durch die dachlose Gebäudekonstruktion und erwischte ihn kurz. Die Menge klatschte Beifall und johlte. ›Sympathy for the Devil!‹ war zu Ende, und der Sänger der Band kündigte als nächstes einen Song von Led Zeppelin an.
Das Konzert fand auf einer behelfsmäßigen Bühne statt, die auf einem Zwischengeschoß unterhalb der zweiten Etage errichtet worden war. Die Spitze des Cocowalk-Zentrums war mit goldenen Intarsien verziert, doch in den unteren Ebenen herrschten elegante Pastelltöne vor. Händler, die sich keine gläserne Schaufensterfront leisten konnten wie Gap, The Limited, Victoria's Secret oder B. Dalton, boten ihre T-Shirts oder ihren Modeschmuck von Handkarren oder Kiosken feil, die überall aufgebaut waren, wo sie sich dazwischen quetschen ließen.
McCracken stieg zur Balkonebene der zweiten Etage hinauf. Er ging an einer Bar namens Fat Tuesday vorbei und näherte sich dem Eingang des Baja Beach Club unmittelbar rechts neben einem Restaurant, das sich Big City Fish nannte. Vor dem Eingang hatte sich eine Schlange gebildet, doch Blaine zückte Ventannas graue persönliche Mitgliedskarte und ging einfach durch. Seine Ohren wurden augenblicklich beleidigt durch das krächzende Jaulen einer Stimme, die einen Songtext zur Begleitung einer Karaoke-Maschine von sich gab. Der Text rollte auf einer Leinwand eines größeren Innenraums ab, während ein fast kahlköpfiger Stammgast um Annäherung an Bob Dylans Klassiker ›Tangled Up in Blue‹ kämpfte. Nur wenige der jüngeren Stammgäste des Baja Beach Club schienen zu kennen, was er sang. Mit Bikinis bekleidete Kellnerinnen trugen Tabletts mit vielfarbigen Drinks.
»Body Shots!« rief eine über das Getöse hinweg.
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